Das Narrativ als Grundlage der Identitätsbildung

Die Frage ist doch letztlich, welche Narrative in einer Gesellschaft zur Identität seiner Mitglieder beitragen. Die Frage ist weiter, wie diese Identität dann auf unterschiedliche Fragen reagiert. Schaut sie auf die Wirklichkeit und sieht hier und dort die Notwendigkeit von Aktivität, oder ist diese Identität von Narrativen beherrscht wie „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ oder „Wer sich bemüht, schafft es auch“, schaut nicht mehr auf die Wirklichkeit und beschränkt sich in seiner Aktivität aufs Phrasendreschen. Die genannten Sprüche sind nämlich Phrasen, die keinen Bezug zur Wirklichkeit haben, das sind Fiktionen aus einer heilen Welt, die es noch nie gab und wahrscheinlich auch nie geben wird. Wenn Probleme gelöst werden müssen, können wie einerseits auf die Wirklichkeit schauen und direkt aktiv werden, oder wir können andererseits zugehörige Narrative ändern, um langfristig das Problem nicht mehr in Erscheinung treten zu lassen. An kalten Wintertagen wäre es gut, den Obdachlosen sofort und direkt zu helfen und nicht auf ein Gesetz zu warten, das diese Hilfe ermöglicht. Es müsste für einen langfristigen Erfolg allerdings beides in Angriff genommen werden: Die direkte Aktion zur sofortigen Abschaffung und die langfristig wirkende narrative Ent-Problematisierung. Nur beides zusammen kann daher im Zusammenspiel einer Gesellschaft eine sinnstiftende Erzählung genannt werden.

In der Wirklichkeit Deutschlands ist diese letztgenannte gute Erzählung leider selten gegeben. Wir beschränken uns in wesentlichen Fragen des gesellschaftlichen Lebens meist aufs Phrasendreschen und vermeiden unbürokratische und direkte Lösungen. Besonders in der Politik und den Gesellschaftswissenschaften scheinen Phrasen die Hauptarbeitsfläche zu sein, auf denen gedroschen wird. Hier wäre ein Blick auf die Wirklichkeit mehr als nötig. Das Verstehen von Narrativen, sinnstiftenden Erzählungen ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, die in einer Gesellschaft wirkenden Fiktionen zu erkennen und ggf. deren Änderung herbeizuführen. Dieses Verstehen gilt aber nicht nur für sozialen Bereich, er gilt für alle Felder der Politik- und Gesellschaftsgestaltung. Dazu zählen die Geschichten über Feinde, Widersacher und die Übeltäter, dazu zählen grundsätzliche Überlegungen zur Freiheit und deren Grenzen, zu Besitz und dessen Begrenzung, zu Macht und deren Kontrolle, zu gesellschaftlichen Verantwortlichkeiten jedes Einzelnen und so feine, leicht zu übersehende Dinge wie Ethik, Moral, Recht und Modeerscheinungen. Ich und Selbst in diesem Sinne bilden ein sehr weites Feld. Es umschließt uns ebenso vollständig wie der Kosmos unsere Erde umschließt, und wenn wir ehrlich sind, sollten wir diesem das Prädikat „unendlich groß“ durchaus zugestehen. Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, das wir machtlos sind. Verstehen ist die erste Voraussetzung, um etwas in Angriff nehmen zu können. Zum Verstehen gehört, unterscheiden zu können, was Wirklichkeit und was Fiktion ist. Dazu kann das Modell der Narrative einen entscheidenden Beitrag liefern.

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