Das Narrativ als Grundlage der Identitätsbildung

Was aber sind Narrative genau? Wie funktionieren diese Geschichten, und was sagt das aus über unsere Gesellschaft, die Welt und unser Leben darin?
Für Harari 1 haben sich diese Geschichten in einer kognitiven Revolution vervielfältigt, die über drei große Stufen geht:

  1. Warnrufe und einfache Weitergabe von Information wie zb, das am Fluss ein Löwe gesichtet wurde.
  2. Klatsch über soziale Beziehungen, die zu stärkerem Zusammenhalt in der Gruppe führen.
  3. Fiktive Sprache, die die Fähigkeit schafft, große Mengen über Dinge zu kommunizieren, die nicht existieren wie Geister, Nationen, AGs oder Menschenrechte.

Zitat: Zwei Mitarbeiter von Google, die einander noch nie gesehen haben, können um den halben Erdball hinweg zusammenarbeiten, weil sie an die Existenz von Google, Aktien und Dollars glauben. Rechtstaaten fußen auf gemeinsamen juristischen Mythen. Zwei wildfremde Anwälte können effektiv kooperieren, weil sie an die Existenz von Recht, Gesetz und Menschenrechten glauben. Diese Dinge existieren jedoch nur in den Geschichten, die wir Menschen erfinden und einander erzählen. Götter, Nationen, Geld, Menschenrechte und Gesetze gibt es gar nicht. Sie existieren nur in unserer kollektiven Vorstellungswelt. 2.

Mit steigender Kognition lassen sich somit immer größere Gruppe in einer sozialen Beziehung vereinen (1. Bis zu 50 Menschen, Gruppe 2. Bis 150 Menschen, Stamm, 3. Millionen, Volk oder Nation).

Nach Wolfgang Kraus 3 benötigen Narrative eine Reihe von Charakteristika, um ganz besonders in der westlichen Kulturkreis eine Wohlformung zu erreichen.

  1. Ein sinnstiftender Endpunkt, der eine wünschenswerte oder unerwünschtes Ziel ansteuert.
  2. Eine Einengung auf relevante Ereignisse
  3. Die narrative Ordnung der Ereignisse wie zb „Eines nach dem anderen“
  4. Die Herstellung von Kausalverbindungen, also eine Ordnung nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip, wobei die Wirkung dann wieder Ursache wird für die nächste Wirkung usw.
  5. Eine Formung von Grenzzeichen, die Anfang und Ende der Erzählwelt markieren, die Geschichte rahmen wie zb „Das war so: …“

Kraus ergänzt dann, dass diese Kriterien meist nur unzureichend erfüllt werden oder sogar werden können. Weiterhin erwägt er die Vermutung, das in Gesellschaften nur wenige Handlungstypen existieren, von denen die gültigen Narrative  abgeleitet sind. Dann werden gerne mit biographischen Elementen ausgeschmückt, so dass die mögliche Vielfalt eines Narratives immer berücksichtigt werden muss.

Zitat: Die Alltagserfahrungen eine Kultur konfrontiert einen typischerweise mit einer Vielzahl von narrativen Formen, von rudimentären bis hochkomplexen. Deshalb tritt das Individuum in Beziehung zu einem breiten Formenpotenzial. Zudem ist es in einer Vielzahl unterschiedlicher Lebenswelten verankert für die es eigene Formen der Selbst-Nachration gibt oder geben kann. 4

Wenn wir die Ausführungen der beiden Autoren zu Narrativen zusammennehmen, dann wird uns möglicherweise schnell bewusst, dass nahezu alles und jedes Gesagte letztlich auf Narrativen beruht, als solches Wirkung entfaltet und somit neben einer Information auch eine Steuerung bedeuten kann. Unser ganzes Leben beruht letztlich auf sinnstiftenden Erzählungen, also auf Klatsch, Tratsch und Gerede über Dinge und Positionen, die es praktisch in der wirklich greifbaren Welt gar nicht gibt. Schauen wir uns daher mal schnell ein Beispiel an, die es in der Erzählung gibt, aber in der Wirklichkeit vergebens gesucht werden wird.


  1. Eine kurze Geschichte der Menschheit, Yuval Noah Harari, Seite 53
  2. Eine kurze Geschichte der Menschheit, Yuval Noah Harari, Seite 41
  3. Das erzählte Selbst, Wolfgang Kraus, S 172
  4. Das erzählte Selbst, Wolfgang Kraus, S 177

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