Das Narrativ als Grundlage der Identitätsbildung

Die Frage, die ich mir seit geraumer Zeit stelle und über die ich hier schreiben möchte ist: „Was ist dieses Ich?“, mit dem ich viele Sätze in der Kommunikation mit anderen beginne, „was ist dieses Ich“ für mich, wenn ich nachdenke und „was ist dieses Ich“ für andere. Ich möchte erkennen können, wie dieses Ich zustande kommt, wie es begründet ist und in der Folge natürlich auch, wie ich dieses Ich verändern kann, wenn ich das möchte. In der Soziologie wird diese Fragestellung unter dem Begriff der Identitätsbildung abgehandelt. Dazu gibt es viele theoretische Gebäude, die vor allen anderen um die Begriffe Kontinuität (gleichmäßiger Fortgang) und Kohärenz (Nachvollziehbarkeit, Zusammenhang) kreisen und in der Regel zu erkunden suchen, wie einerseits aus dem Kind über die Adoleszenz (Pubertät) eine Persönlichkeit sich gestaltet und andererseits Störungen und Psychopathologien (Borderline, Soziopathie, multiple Persönlichkeitsstörungen, Psychosen) behandelt werden können. Leider betrachtet die Soziologie immer nur einen sehr kleinen Teil der Gesellschaft in ihren Studien, so dass die Theorie der Narrative längst nicht alle Schichten erfassen konnte und für sehr viele Menschen daher noch heute ein abgehobenes Konstrukt einer Universitätselite geblieben ist. Das ist schade, denn diese Theorie kann sehr viele Erscheinungen in der Gesellschaftsentwicklung erklären und wäre somit auch als Grundlage für notwendige Verbesserungen und Änderungen in Gesetz und Recht durchaus brauchbar.

Über das Narrativ in der Arbeitswelt gibt es bereits einen Artikel auf dem Blog NeoNekoManie, der aus einer sehr persönlichen Sicht heraus entstand:
https://sperzelhp.net/ein-versuch-zum-narrativ-arbeit/

Grundsätzlich kann gesagt werden, ist das oder ein Narrativ eine Geschichte, die erzählt wird, sich durch ihre Verbreitung sinn- und gemeinschaftsstiftende auswirkt und somit zur Grundlage werden kann für eine Gesellschaft beliebiger Größe. Weitreichende und tiefgreifende Geschichten dieser Art finden wir in den Systemen des Kommunismus und des Faschismus, finden wir in den Systemen der Diktaturen aller Zeiten und natürlich in der Monarchie. Denken wir nur an die sogenannten sozialistischen Ein-Parteien-Systeme im Osten in Gegenwart und Vergangenheit, denken wir an den Faschismus im „Tausendjährigen Reich“ und anderen Ländern Europas, denken wir an die Jahrhunderte der Monarchie in Europa, denken wir an das Imperium der katholischen Kirche und natürlich auch an die Diktaturen der Neuzeit, die kürzlich erst entstanden oder noch im Entstehen sind. Aber auch unsere sogenannte freie Welt beruht auf solchen Erzählungen. Genannt seien hier die sogenannte freie Marktwirtschaft, die liberale Geschichte über die unsichtbar gestaltende Hand des freien Marktes, genannt sei die „Mitte der Gesellschaft“ oder auch das Prinzip der parlamentarischen Demokratie: „Die Mehrheit entscheidet 1“. Was ebenfalls zu einem Narrativ sich ausgestaltet sind solche Geschichten und Werke wie „der amerikanische Traum“, „Die Menschenrechte“, die „Europäische Friedensordnung“, die „Westliche Wertegemeinschaft“, die „Freie Weltordnung, die „Globalisierte Wirtschaftsordnung (Markt)“ oder sogar die „Freie Welt“, mit der sich Organisationen wie die Nato, NGOs aller Couleur, Sportverbände und Medienbetriebe gerne schmücken.  All diese Schlagworte beruhen auf Erzählungen, die geglaubt werden, die wenig hinterfragt, trotzdem aber für richtig befunden wurden und daher auch gelebt werden.  Mit anderen Worten sind all unsere gesellschaftlichen und soziologischen Errungenschaften auf der Basis solcher Geschichten entstanden, wurden als Geschichten verbreitet und wirken als selbige ins Leben des Einzelnen und in Gruppen und Organisationen hinein.  Leider jedoch werden diese Geschichten noch immer in ihrem Kernanliegen nicht verstanden, denn diese Geschichten sollten, um entwicklungsfähig und verbesserungsfähig zu bleiben, sich selbst fortschreiben können. Das mag für eine Minderheit durchaus gültig sein, für die große (schweigende) Mehrheit jedoch ist dieses Prinzip alles andere als Wirklichkeit heute. Es mehren sich nämlich Geschichtsauslegungen, die noch vor wenigen Jahren Dogmen genannt, die ablehnend mit „Dem Muff aus tausend Jahren“ oder zustimmend mit „Der guten alten Zeit“ umschrieben wurden.


  1. …,was für maximal 49% aller Beteiligten ebenfalls zu einer Diktatur werden kann…

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert