Das Narrativ als Grundlage der Identitätsbildung

Nehmen wir das Beispiel Geld. Was ist Geld? Viele werden jetzt ins Portemonnaie greifen und ein paar Scheine vorzeigen. Der Rest unseres Geldbesitzes liegt auf der Bank und besteht lediglich aus Zahlen in Tabellen.  Wenn jetzt ein elektrostatischer Impuls alle digital gespeicherten Daten löscht, wenn alle Scheckkarten darauf ungültig werden und wir unsere paar Scheine aus der Hosentasche ausgegeben haben, wie kommen wir dann an unseren ersparten Besitz? Geld ist ein Versprechen, eine Vereinbarung zwischen Menschen, das aufgrund einer Karte oder eines Scheines eine Gegenleistung erbracht werden kann. Wie gesagt „kann“, nicht muss. Wenn mein Geld niemand mehr haben will, kann ich Milliarden davon besitzen und werde doch verhungern. Wie flexibel und variabel Geld sein kann, beweisen die Krisen der vergangen Jahre. Es wird im Vergleich zu anderen solcher Systeme ständig auf- und abgewertet, gehandelt, spekuliert, und wenn ganz bestimmte Situationen entstehen wie 1929, dann ist das Geld nicht mehr das Papier wert, auf dem es gedruckt ist. Geld ist eine Fiktion und beruht auf einer Erzählung.

Eigentumsrechte sind Fiktionen. Grenzen zwischen Staaten sind Fiktionen. Machtansprüche sind Fiktionen. Dass man ohne Essen hungert, ist Wirklichkeit. Das der stärkere zumeist recht bekommt ist auch eine oft zu beobachtende Wirklichkeit. Und das einige in einer Gesellschaft in Palästen wohnen und andere nicht einmal einen trockenen Schlafplatz finden, ist Wirklichkeit. Die Menschenrechte sind eine Fiktion genauso wie der Gleichheitsgrundsatz, den viele Verfassungen von Staaten beinhalten. Das viele Menschen sich auf der Flucht vor Krieg und Hunger befinden ist Wirklichkeit. Die Liste ist unendlich lang und zumindest vom Wirklichkeitsaspekt unendlich deprimierend. Ich glaube aber jetzt, das verstanden werden kann, was Narrative sind und wie sie sich einordnen in die Welt der Dinge. Mein Ich und auch mein Selbst beruhen, das ist die Schlussfolgerung, zu großen Teilen auf Erzählungen. Was ich wünsche, sein möchte und wahrscheinlich auch bin ist eine Fiktion. Hunger, Durst und die Wahrnehmung des Körpers allerdings sind Wirklichkeit.

Worauf ich hinarbeiten möchte ist die Aussage, dass es im Leben in Gesellschaften Wirklichkeit und Erzählungen (Narrative) gibt und diese unterschieden werden müssen, wenn ein geselliges Leben sinnvoll sein soll. Die Wirklichkeit ist, das Narrativ ist nicht, die Wirklichkeit kann nur langsam und in geringem Umfang verändert werden, die Erzählung aber kann schon morgen umgeschrieben sein. Wenn wir Gesellschaft denken, analysieren und formen ist diese Unterscheidung von grundlegender Bedeutung. Wirklichkeit zu verändern, Lebenswirklichkeit, ist ein langsamer und mühsamer Prozess. Nehmen wir einen obdachlosen Mitbürger, der krank ist, Hunger und kein Dach über dem Kopf hat, der von Mitmenschen gescholten und abgewertet wird und sein Vertrauen in die Gesellschaft schon lange verloren hat. Für ihn ein Veränderung herbeizuführen, ist langwierig und mühsam. Auch um vielen gering verdienenden Familien eine bezahlbare Wohnung bereitzustellen, ist mühsam und langwierig.  Ein Gesetz zu ändern allerdings ist einfach. Wir konnten das in Deutschland im Dritten Reich sehen, wo innerhalb weniger Tage, wenn nicht gar Stunden eine große Anzahl von Bürgern zu Feinden der Gesellschaft wurden, denen sogar das Mensch-Sein abgesprochen werden konnte. Und wenn bereits morgen keine Autos mehr in der Innenstadt mehr geduldet sein würden, es eine Anweisung (Fiktion) dazu gäbe und ein paar Schilder aufgestellt würden, ist die autofreie Innenstadt bereits morgen Wirklichkeit. Wir haben Wirklichkeit wie Armut. Wir haben Fiktionen wie die Gesetzgebung. Wir haben Fiktionen, die auf die Wirklichkeit einwirken wie die autofreie Stadt. Und es gibt auch Wirklichkeiten, die neue Fiktionen schaffen, die sich wiederum auf die Wirklichkeit auswirken. Beispiel dafür wäre ein Gesetz, das wegen einem untragbaren Zustand in der Gesellschaft erlassen würde und sich dann über dessen Anwendung auf die Wirklichkeit einwirkt. So könnte eine Gemeinde verpflichtet werden, den bereits erwähnten Obdachlosen ein Dach über dem Kopf anbieten zu müssen, wodurch weniger Menschen in kalten Nächten krank werden oder gar  zu Tode kämen.


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