Déjà Vu mit Herzenskühle

Wir leben heute in einer seltsamen Zeit, die fast schon wie ein Deja Vu daherkommt. Ich denke da an die Zeit kurz nach dem ersten Weltkrieg, als Leute wie Freud, Le Bon, Tarde, Broch und Canetti versuchten, erste Versuche der Phänomene Massenhysterie, Massenwahn und Massenmensch zu formulieren oder in Romanform auszudrücken und damit zu erklären versuchten, wie das Unglück des großen Krieges entstehen konnte. Wenn ich in die Presse, das Fernsehen und die Gesprächsstoffe mir ansehe, mit denen ich zur Zeit regelrecht bombardiert werde, sehe ich mich im Jahrhundert zurückversetzt und erkenne die Erzählungen meiner Eltern und Großeltern, die von der „guten alten Zeit“ handelten, die ganz und gar nicht so gut war, wie ihr Ausdruck das versprach. Denn es war genau die Zeit, die die genannten Autoren zu ergründen suchten. Das wurde mir schnell klar, als ich mir nur ein paar Minuten Zeit nahm, darüber nachzusinnen.

Exkurs: Die oben genannten Autoren beschrieben ihren Eindruck von Massenphänomenen, wie sie im ersten Weltkrieg aufleuchteten, mit sehr deutlichen Worten:
Mauntpassant sah in der Masse „…ein unerträgliches Unbehagen, eine grässliche Nervosität…“.
Bei Edgar Allen Poe ist der Massenmensch die Summe der Eigenschaften der Masse: Vorsicht, Geiz, Herzenskühle, Bosheit, Blutdurst, Triumph, Fröhlichkeit, Schrecken und Verzweiflung.
Le Bon sah in der Masse „ein Verschwinden der bewussten Persönlichkeit“.
Canetti wurde in seinen Worten überdeutlich. Er schrieb: „Ein gefahrloser, erlaubter, empfohlener und mit vielen anderen geteilter Mord ist für den weitaus größten Teil der Menschen unwiderstehlich. Und weiter: „Die Bildung von Hetzmassen kommt diesem Bedürfnis entgegen“.

Alle diese Erscheinungen nehmen heute wieder an Fahrt auf, und das in einer Geschwindigkeit, die mir Unbehagen bereitet und Unwilligkeit in mir erzeugt. Ich möchte dieser Unwilligkeit jetzt Worte geben, sie aufschreiben, wie sie mir in den Sinn kommen und damit ein Zeugnis ablegen für meine Weigerung, an dieser „Hetzmasse“ teilzuhaben:

Ich weigere mich zu Glauben, dass das, was immerzu und in unendlicher Dichte erzählt, behauptet und geschlussfolgert wird, wahr sein könnte. Es entspricht nicht meiner Erfahrung, plötzlich mir in verbindlich und sachlich erschienen Menschen einen Feind zu sehen, der mit allen Mitteln, Verteufelung, Kriminalisierung und Dämonisierung, zu bekämpfen sei. Und wenn dann dieser Kampf ausgetragen wird ohne Rücksicht auf Verluste, also zerstören wollen, verurteilen und richten wollen, und dabei einfache und ohnmächtige Menschen in allen Völkern die Last der Handlungen tragen müssen, dann empfinde ich das nicht nur als ungerecht, sondern mehr noch als grausam und rücksichtslos. 1 Sind wir wirklich blind geworden. Sind wir so vergesslich geworden, das innerhalb von Tagen eine stabil geglaubte Welt in Teile zerbricht, die sich gegenseitig ausschließen? Es ging in der gesamten Weltgeschichte doch niemals darum, was jemand tat, irgendwann und was auch immer, sondern es waren und sind doch immer die Folgen dieser Taten, die von den Menschen zu ertragen waren. Aus gerechten und verständlichen einzelnen Handlungen, die für sich gesehen uns zu Lob anzuspornen in der Lage waren, wurden Fluten aus Verderben und Wahn. Und das aus zunächst verwerflichen Handlungen auch Erfreuliches, Gutes und Wertvolles entstehen konnte, ist doch auch oft in der Geschichte abzulesen. Sind nicht alle großen Reiche und die folgenden Jahre des Friedens aus so etwas entstanden? Ist es nicht das, was Menschen berücksichtigen müssen, wenn Urteil und Entscheidungen anstehen. Sind es nicht vielmehr die ganz anderen Fragen, die immer gestellt werden müssen, die da lauten: „Wo führt es hin?“, „Wo wird es enden?“ und „Was ergibt sich daraus für die Zukunft?“. Wir wissen doch nicht, was morgen geschieht. Haben wir jemals voraussehen können, was eine Entscheidung, eine Tat, eine Handlung für Folgen haben könnte? Unsere Erfahrung sagt uns doch, das „wir es auch nur gut gemeint haben könnten“, das wir „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen könnten“ und das wir jedem moralisierendem Geschwätz zwar begeistert zuhören können, aber ihm trotzdem nicht trauen dürfen. Haben wir die großen Beispiele vergessen, die uns die Geschichte lehrte? Glaube jemand wirklich, das Luther, hätte er gewusst, was er mit seinen Thesen lostreten würde, die seine Kirche zurückführen sollte zu ihrer wahren Bestimmung, für Tod, Leid und Krieg verursacht hat? Würde er aus diesem Wissen heraus seine Thesen erneut an die Kirchentür nageln? Hat der Anschlag auf einen Fürsten, eines einzeln Menschen, nicht den Funken erbracht, der ein bestehendes Pulverfass zum Bersten brachte und auf der ganzen Welt Millionen von Menschen einen erbärmlichen Tod in den Schützengräben eines Weltkrieges bescherte? Und würde im Wissen, was geschehen wird, heute Nobel sein Dynamit erfinden und Hahn seine Atombombe bauen? Ich glaube, das diese Menschen ihre Arbeiten und Taten, die nachvollziehbar und gut gemeint waren, überdenken und alles daran setzen würden, ihr Wissen nicht zu gebrauchen.

Ich sehen heute, am Anfang des dritten Jahrtausends, in der breiten öffentlichen Anschauung eine hässliche und von Torheit geprägte Unsitte aufleuchten, die nicht mehr erkennt, wie beschränkt und unwissend die Menschen in der Masse sein können. Und ich appelliere an alle Menschen, zu bedenken, das bei allem, was wir entscheiden und tun, der Ausgang immer ungewiss verbleibt. Und ich appelliere an alle Träger von Macht und Verantwortung, ihre Spielchen mit „hätte, könnte und dürfte“ sein zu lassen und zur nüchternen Betrachtung der Realität zurückzukehren. Und ich appelliere an unsere Medien, ihre Macht nicht zu missbrauchen und Nachrichten, Meinungen und Propaganda exakt und unmissverständlich zu unterscheiden, dies auch so zu bezeichnen und zu bezeugen. Kein Medium sollte Hass, Gewalt und Hetze verbreiten.

  1. Nur einige Stichworte: Verteuerungen von Energie und Nahrungsmitteln in der ganzen Welt; Verschwendung von Mittel für Waffen und Armeen, die nie zum Zuge kommen sollten; Benachteiligungen einzelner Menschen aufgrund ihrer Abstammung.

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