TINA versus Martin Schulz

Seit Martin Schulz die SPD wiederbelebt, stellt man sich in Medien und Diskussionsrunden, in Vorträgen Essays und Meinungsäußerungen immer wieder die Fragen: „Was will dieser Schulz? Wieweit würde er gehen und mit wem zusammen wird er das umsetzen wollen? Meinem Eindruck nach wird hier der Versuch gemacht, den neuen Gegner frühzeitig unter Druck zu setzen, ihn zu unbedachten Äußerungen zu zwingen, um ihn angreifbar zu machen.

Das ist eine Methode, die auf die eristische Dialektik zurückgeht, wobei man in Disputen selbst nie etwas von sich gibt, aber prinzipiell bemüht ist, die Äußerungen seiner Disput-Gegner zu zerreißen, bevor man selbst Stellung bezieht oder einfach gar nichts zu sagen hat. Da alle gegnerischen Argumente geplatzt sind, kann man selbst zum Disput-Ende hin mit seinen oftmals dünnen Ideen punkten. Diese Idee wurde gerade von den Entwicklern der neoliberalen Wirtschaftsidee aufgegriffen und weiterentwickelt. Was wir oft über diese Theorie noch zu hören bekommen sind Entsprechungen der These TINA (There is no alterative), die auch von Kanzlerin Merkel mit Vehemenz vertreten wird. Wieweit diese Weiterentwicklung allerdings geht, wird bisher so gut wie nicht in den Medien beschrieben, geschweige denn diskutiert.

TINA versucht, mögliche Alternativen zum bestehenden System zu verbauen, indem Entscheidungen und Reformen verschiedenster Themenbereiche so miteinander und ineinander verstrickt werden, dass letztlich nur erwünschte Effekte auftreten können. So hat man beispielsweise die Ausgabenpolitik des Staates und der Länder so mit Schuldenbremsen ausgestattet, das eine andere Ausrichtung der Wirtschafts- und Sozialpolitik (z.B. nach Keynes) nahezu unmöglich erscheint. Das Konzept „Fördern und Fordern“, das ebenfalls als alternativlos angesehen wird, verfolgt nicht die Idee, arbeitsscheue Menschen zur Mitarbeit zu bewegen, sondern verfolgt mit Arbeitsagentur und Strafkürzungen die Idee, einen im Sinne der Wirtschaft profitablen Niedriglohnsektor aufzubauen und zu erhalten, ohne dass diese Einrichtung allzu stark ins Bewusstsein der Menschen dringt. „Fördern und Fordern und Arbeitslosigkeit bekämpfen“ klingt einfach besser als „Wir brauchen Niedriglöhner und schwache Gewerkschaften, damit die Profite weitersteigen können“. Der ganze Niedriglohnsektor ist gewerkschaftlich sehr schwach organisiert, bekommt medial weder  Aufmerksamkeit noch Hilfe und man (gemeint mit man ist die große Mehrheit derer, denen es gut geht…) schaut auch da gar nicht so gerne genau hin. Ebenfalls schwach bis gar nicht organisieren können sich die Berufseinsteiger (Lehrberufe genauso wie Studienabgänger), die mit Trainingszeiten, befristeten Arbeitsverträgen und vielen Ausfallzeiten zu kämpfen haben und daher erst mit 30, oft auch erst mit 35 eine planbares Leben beginnen können. Hier funktioniert das Prinzip TINA mit voller Wucht, denn diese Menschen können weder auf eigene Erfahrung aufbauen noch auf organisierte Hilfestellung hoffen.

Ein weiteres wunderbares Resultat dieser Politik ist die Konzentration von Arbeitsmöglichkeiten in übergroßen Firmen und Konzernen und deren internationale Verstrickungen, die alle über den Finanzsektor geplant und organisiert werden. Arbeitgeber mit vielen Beschäftigten, große internationale Banken, kleine Firmen mit weitreichenden internationale Geschäftsbeziehungen und deren Abhängigkeiten bergen ein großes Erpressungspotential für die politischen Funktionsträger, weil diese riesigen oder technologisch wichtigen Organisationen alternativlos sind und mit dem Verweis auf Arbeitsplätze und Funktionalität Entscheidungen beeinflussen können. Wir nennen das gerne Lobbyarbeit, doch im Grunde sind es Bestechung, Erpressung und Vorteilsnahme, die hier mit großem Auswand betrieben werden. Als Beleg dafür können die Bankenrettung, die Skandale der Automobilindustrie und die vielen kleinen und großen Gesetzesverstöße herhalten, die immer wieder aufgedeckt werden und leider zu keinerlei Konsequenzen führen. Das Argument „Arbeitsplätze“ ist das exzellenteste Beispiel dafür, warum das so ist und auch bleiben wird.

Das Konzept der Wirtschaft ist heute, keine Alternativen zuzulassen, gegenüber politischen Entscheidungsträgern Einfluss und Abhängigkeit herbeizuführen, die arbeitende Bevölkerung desorganisiert und erpressbar, die Medien mit der Vergabe von Anzeigen auf Kurs zu halten und somit nur noch eine einzige Richtung in der Wirtschaftspolitik zuzulassen. Die geschürte Angst vor gesellschaftlichem Abstieg, Unwissenheit und Leistungsdruck sind wesentliche Werkzeuge dieser Methode. Wer die Diskussionen und Äußerungen in den Medien aufmerksam verfolgt (Das ist übrigens echt und wirklich alternativlos…), wird große Teile davon Tag für Tag bestätigt bekommen.

Wer letztlich die Initiatoren sind bleibt unklar, und manchmal glaube ich auch nicht mehr, dass sich hier einzelne Personen oder Kreise identifizieren lassen, die das alles steuern. Ich denke mehr und mehr, das sich hier ein System verselbstständigt hat, das seine Energie von vielen kleinen unscheinbaren Helfern bezieht, die so tief in ihr Dogma verstrickt sind, das sie selbst nicht merken, wie unmenschlich die Ergebnisse ihrer Tätigkeiten in Wirklichkeit sind.

Martin Schulz wird gut daran tun, nicht in die Falle dieser Methode zu geraten. Mit seinen Ansichten und Zielen möglichst lange im Dunkel zu bleiben ist die einzige Waffe, die in dieser Auseinandersetzung wirkt. Aus der Sicht der Eristik muss man  schon aus Selbstschutz zu den gleichen Mitteln greifen, die der Gegner ohne Rücksicht auf Fairness und Wahrheit verwendet. Man muss sich ja nicht sich am allgemein üblichen Verleumden beteiligen. Nicht alles offen auszusprechen genügt schon. Als langjähriges Mitglied der SPD, als früherer Funktionsträger in der EU wird er in der Diskussion über soziale Ziele es sowieso schwer haben zu überzeugen. Zu groß und zu schwerwiegend war der Verrat Schröders an seinen Wählern. Sollte seine Ankündigung von Änderungen und Anpassungen erst gemeint sein, was ich sehr hoffe, ist für ihn größte Zurückhaltung in der Meinungsäußerung besonders zu Koalitionsaussagen angesagt. Ich teile allerdings nicht die Zuversicht der SPD-Mitglieder, hier und schnell in diesem Jahr noch einen neuen Anfang zu bekommen. Allerdings werde ich die Schulz-Idee dadurch fördern, dass ich den einzigen Koalitionspartner unterstütze, mit dem unter Führung der SPD eine Änderung herbeigeführt werden könnte. Sorry, SPD, der Worte gab es schon viele, ich allerdings werde euch an Taten messen, und davon sehe ich im Moment noch nicht genug.

Exkurs: Auffällig an den Medienberichten der letzten Tagen ist, das Umfragen und Meinungsäußerungen eine vollkommen SPD-euphorisierendes Saarwahlergebnis vorhersagten, das sich dann schlagartig bereits in der Prognose gegen 18:00 Uhr widerlegte und in Fragen der Moderationen mündete, die alle Zweifel an der Chance für einen Politikwechsel speziell im Bund in Zweifel zogen. Eine geballte Medienmacht, auf allen Kanälen, in allen Diskussionsrunden stellte immer wieder dieselbe Frage: War die Hoffnung auf Rot-Rot an der Saar und besonders Rot-Rot-Grün im Bund eine falsche Vision? Für mich sah das aus wie eine geplante Kampagne, perfekt getimt und professionell und großflächig durchgeführt. Hoffnung wecken, diese enttäuschen und dann daraus Schlussfolgerungen ziehen, die mit der Enttäuschung  eigentlich nichts mehr zu tun haben (Die Erweiterung des Rahmens aus der Eristik).

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