Stimmungsbilder, wie sie wie oben gezeigt beschrieben sind, sind daher heute das Kapital der politischen Kultur. Erregen sie die Gemüter, wirken sie wie „Säue, die durchs Dorf getrieben werden“, verbreiten sich sozusagen viral und nehmen wenig Rücksicht auf Kollateralschäden. Kennzeichnend dabei sind die hohen Geschwindigkeiten, mit den sie sich heute mit der Digitalisierung verbreiten. Junker hat daher das Verhalten von Politikern heute einmal deutlich ausformuliert:
„Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“ — Jean-Claude Juncker
Diese Stimmungen sind wie große Wellen, die sich durch die gesamte Gesprächs- und Debattenkultur ziehen und die Menschen wie eine Herde in Fahrt bringen. In der englischen Sprache gibt es dazu den Begriff „Stampede“, was im Deutschen als „Massenpanik“ ausgedrückt werden kann. Diese sind unkontrollierbar und gehorchen keinen rationalen Gesetzen. Beispiele dafür sind groß angelegte Mail-Attacken, sind Flashmobs und Shitstorms.
Alle Neuerungen finden in einer mehr oder weniger sozialen Gesellschaftskonstruktion statt. Das ist heute nicht anders als in früheren Zeiten. Allerdings hatten wir nach dem 2. Weltkrieg eine Entwicklung, die zunehmend breitere Bevölkerungsschichten einen durchaus ansprechenden Wohlstand beschert hat. Dieser Trend währte 30 Jahre, kam zum Stillstand und befindet sich seit dem Jahrtausend-Wechsel in einer Umkehrung. Solche Wechsel zum Schlechteren hin gehen für viele Menschen mit der Angst einher, in ein weniger attraktives Sozialmilieu abrutschen zu können. Wir sehen diesen Trend in Form der sich immer weiter öffnende Schere der Vermögen und Einkommen und in der extremen Zunahme prekärer Beschäftigungen. Es ist heute zu beobachten, das die von der Bevölkerung erbrachten Gewinne immer mehr in den Taschen von wenigen Besitzenden landen. Eine immer größer werdende Zahl der arbeitenden Menschen kämpfen auf der anderen Seite Tag für Tag für den Erhalt ihres sozialen Status. Und sie haben immer weniger Erfolg dabei.
Die große Vernetzung und somit die starke Beschleunigung von Resonanz und Reaktion wird in den Wissenschaften von der Soziologie und der Psychologie erforscht. Nutznießer dieser Forschung sind finanzkräftige Organisationen, die diese Forschungen finanzieren und deren Ergebnisse für Zwecke wie Werbung, Publik Relation oder Selbstdarstellung verwenden. Die erarbeiteten Methoden werden weiterhin dazu verwendet, in der Gesellschaftsdebatte als Interessen- und Meinungsverstärker zu wirken, und dabei ist es relativ unwichtig, welche Zwecke verfolgt werden. Transportiert werden diese Verfahren durch Medien, die wie alle Firmen sich entweder über Waren, Dienstleistungen oder Werbung finanzieren müssen. Nahezu alle großen Medienhäuser Europas können dieser Gruppe zugeordnet werden. Die wenigen frei und unbelastet arbeitenden Medien gibt es nahezu nur noch im Netz in Form von Blogs oder Portalen. Sie sind in der Gesamt-Medien-Betrachtung in Zahl und Quantität den etablierten alten Medienformen gegenüber zu unbedeutend, um wirken oder Resonanz erzeugen zu können. Zusätzlich erschwert wird deren Arbeit dadurch, das sich die Klassiker, die sich selbst als „Qualitätsmedien“ ansehen, sozusagen zu einer homogenen Gruppe bündeln, die einen Mainstream hervorbringen und die somit nicht als Einzelkämpfer, sondern als Gruppe wirken können. Gemeinsam gefahrene Medienkampagnen können somit ein breites, weil monopolistisch erzeugtes Meinungsbild erzeugen, gegen das ein einzelnes Medium allein nicht ankommen kann.