Der Bildungsnotstand

Etwas wehrt sich in mir, mitzuspielen, etwas sträubt sich, die Fakten so zu sehen, wie sie mir bekannt gemacht sind. Wann immer ich die Zeitung aufschlage oder in ein Onlineportal einlogge, dringen Bilder und Ansichten in meinen Kopf ein, gegen die jede Faser meines Wesens sich sträubt. Haben wir Menschen denn wirklich nichts gelernt. Ich dachte immer, mit Aufklärung, Erkenntnis und mit wissenschaftlicher Forschung haben sich Vorurteil, Dogma, Parteilichkeit und Willkür in Luft aufgelöst. Aber was lacht mir Tag für Tag entgegen, Gezänk, Manipulation, Hinterlist, und selbst die schon tot geglaubte Heimtücke ist wieder allgegenwärtig und übermächtig.

Schauen wir uns ein paar Beispiele für Erkenntnis an, die ich als Allgemeingut längst verwirklicht glaubte:

• Da ist zunächst die Aufklärung zu nennen, die anstelle von Aberglauben und Offenbarung den Glauben an die Vernunft der Menschen uns ihrer Gesellschaften setzen wollte. Man wollte eine offene, entwicklungsfähige und traditionsfreie Weltanschauung erreichen, in der alle Wesen ein gesichertes Leben führen können. Wie weit sind wir davon noch oder wieder entfernt? Gibt es weniger Unterdrückung, weniger Hunger in dieser Welt? Selbst gesicherte, festgefügte und reiche Gesellschaften (zB. Spanien) finden sich heute wieder am Rande des Abgrundes.

• Nach eintausend Jahren christlicher Unterdrückung, nach Scheiterhaufen und Mordzügen gegen Andersdenkende glaubten wir dem Dunkel entstiegen zu sein. Wir glaubten, die Sexualität, die Frauen und das gemeine Volk von Unterdrückung und Vormundschaft befreit zu haben. Und nun müssen wir zuschauen, wie Unterdrückung durch die Hintertüre wieder eingeführt wird. Das offene aggressive Joch durch Kirche und Adel wird ersetzt durch eine verdeckte wirtschaftliche Abhängigkeit von Reich nach Arm. Den Grafen und den Pfaffen kannte man in früherer Zeit. Die Märkte, unter denen wir heute leiden, geben sich anonym und nicht angreifbar.

• Das Prinzip der Relativität besagt, dass (Natur)Gesetze für alle die gleiche Form haben müssen. Und daher ist es unmöglich, einen Standort außerhalb einzunehmen. Diese Erkenntnis wird gerne auch als unscharf bezeichnet, was so viel heißt, das keine eindeutige Aussage möglich zu sein scheint und man daher oftmals auf ein unbestimmtes Ergebnis seiner Bemühungen hinsteuern muss. So weit so richtig. Allerdings impliziert das ebenfalls, dass, wann immer Entscheidungen getroffen werden müssen, man zunächst einmal alles Menschenmögliche zu bedenken hat, sich die notwendige Zeit nimmt, sich das verfügbare Wissen aneignet und dann versucht, möglichst gradlinig und mit kalkulierbarem Risiko seinen Weg zu gehen. Das allerdings Unschärfe und Tagesgeschick mehr und mehr zur alleinigen Entscheidungsgrundlage stilisiert wird (Wir fahren auf Sicht… Das ist alternativlos… Ich orientiere mich zeitnah…, ich folge dem Mainstream…) hatten die Entdecker dieser Gesetze (Galilei, Einstein, Heisenberg u.a.) sicher nicht im Sinn. Überall scheint souveräne Unschärfe (nach KR Korte) zu herrschen. Wäre etwas mehr System nicht wünschenswert?

• Ein weiteres Beispiel unverstandener Erkenntnis ist das Modell der Systemtheorie, das sich als einzig wirklich brauchbares Instrument zur Beschreibung von Komplexität erwiesen hat. Danach sind Einheiten wie Gesellschaft, Parlament, Familie usw. sich selbst erhaltenden Systeme und können phänomenal nur innerhalb der Einheit beschrieben werden oder anders ausgedrückt: Eine Bewertung kann nur innerhalb des beschriebenen Systems vorgenommen werden. Wenn wir das dann einmal verstanden haben verstehe ich nicht, wie wir uns anmaßen können, unsere politischen und wirtschaftlichen Systeme anderen Kulturen aufzudrängen, ja sogar aufzuzwingen. Grundvoraussetzung der Demokratie ist verwirklichte Toleranz innerhalb der Gesellschaft, ist Minderheitenschutz und ein hohes Maß an Teilhabe. Sind diese Voraussetzungen wirklich schon auf der ganzen Erdkugel erfüllt?

• Die Menschenwürde ist in Deutschland nach gültiger Rechtsnorm der wichtigste Wert des Grundgesetzes. Das impliziert ein Leistungsrecht, was bedeutet, das nicht nur gegen die Menschenwürde nicht gehandelt werden darf, sondern das Staat und seine Instanzen (Exekutive, Legislative und Judikative) aktiv werden muss, um diesen Wert zu schützen. Wie aber kommen unter diesen Bedingungen Gesetze zustande, die (zum Beispiel bei der Mindestgrundversorgung von HartzVI und Asylbewerbern) Unterschiede machen, Frauen schlechter stellen oder Kinder als nur halbe Menschen ansehen?
Das waren nur fünf wichtige Erkenntnisse der letzten Jahrhunderte. Keine davon ist auch nur ansatzweise und durchdringend umgesetzt, und auch wenn das gemeine Volk zu diesen durchaus abstrakten Inhalten wenig Einblick erhielt, so muss doch von den Bildungseliten (Management, Regierung, Verwaltung) eines hochentwickelten Industriestaates eine vollständige Umsetzung erwartet werden. Davon sind wir heute aber sehr weit entfernt.
In den letzten Monaten wurde immer wieder die Devise laut, das Bildung mehr denn je zu einer wichtigen Ressource werden muss, um den Fortbestand unserer Kultur und dem damit verbundenen Wohlstand zu erhalten. Und die Rufer dachten da nicht so sehr an sich selbst, sondern zeigten auf die sogenannten „bildungsfernen Schichten“. Relativitätsprinzip und Systemtheorie werden aber beim Bauen eines Hauses, beim Bedienen in einer Gaststätte oder der Arbeit in einem Friseursalon nicht benötigt. Benötigt würde das in Verwaltungen, in Ministerien und in Managementbüros, aber gefunden wird es dort leider immer seltener. Dort nämlich ist der lautstark ausgerufene Bildungsnotstand zu Hause, dort herrscht ein so breites Halbwissen, dass Intelligenz, Nachhaltigkeit und Mitgefühl scheinbar keinen Platz mehr zu finden scheinen.
(HS-120810)

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