Die Erzählung, die zum Lebensentwurf wird… oder (heute) auch nicht (mehr).
In diesem Entwurf möchte ich über das Narrativ (ein soziologischer Begriff: Erzählung) erzählen, das Narrativ, das ein Arbeitsleben begleitet und von der Ausbildung oder sogar der Schule beginnend durch ein Leben führt bis zum Ruhestand. In diesem Narrativ schlägt sich ein Lebensentwurf nieder, der heute, im Gegensatz zu meiner Jugend, die in den siebziger Jahren stattfand, vollkommen verändert erscheint.
Während er in meiner Jugend sich über die Ausbildung beginnend in geradlinigen Bahnen vollziehen konnte, sind Lebensentwürfe heute nicht mehr wie ein Fahrzeug, das eine vorbestimmte Strecke zurücklegen wird, sondern ist eher wie ein Konvoi zu betrachten. Es gibt heute für viele junge Menschen, die schon nach kurzer Zeit einen Abschnitt abschließen müssen, es kann heute Lebensabschnitte geben, nach denen ein vollkommener Neuanfang notwendig ist und es gibt sogar wieder Zeiten, die von großer Unsicherheit beherrscht werden. Wie anders ist da mein Leben verlaufen, das nach abgeschlossener Ausbildung, nach vorzeitiger Prüfung, mit unbegrenzten Vertrag über einen Zeitraum von 47 Jahren in nur einem Unternehmen ablaufen konnte und der mir eine ungebrochene Lebenslaufbahn, Sicherheit und heute eine ausreichende Altersversorgung beschert hat. Die Frage, die sich stellt, ist die: Was ist anders heute? Woran krankt diese neue Unsicherheit? Wer hat dieses Heutige beschlossen oder gar verschuldet? Wie kann es zum Besseren hin verändert werden?
Das Narrativ, das sich unsere Gesellschaft bis heute gegeben hat und das auch mein Arbeitsleben noch prägend bestimmte ist doch folgendes: Du brauchst am Anfang ein abgeschlossene Schulausbildung, gehst dann in eine Lehre oder in ein Studium, bewirbst dich und erhältst einen Arbeitsvertrag, der dich, in die Lage versetzt, mit gesichertem Einkommen eine Familie zu gründen, ein Haus zu bauen und gesund und sicher bis in den Ruhestand zu leben und zu arbeiten. Diesen Ruhestand verbringst du dann im Kreise deiner Enkel bis zum glücklichen Ableben und genießt dabei jeden Tag. Jedes Jahr einen Urlaub, hier und da ein neues Auto, hier und da ein Sightseeing oder ein Wellnessaufenthalt, und wenn sie nicht gestorben sind, dann… Diese Geschichte war 1970 noch vollkommen intakt. Diese Geschichte habe ich gelebt und durchgängig bis zum heutigen Tag verfolgt. Bis heute, das ist für mich der Ruhestand, ist alles rund und gut gelaufen. Ein makelloses Narrativ. Stimmt das, war und ist das Alltag heute oder hatte ich einfach nur Glück? Ich denke, und meine Beobachtungen stimmen damit überein, in den siebziger Jahren begonnen war das durchaus noch ein normaler Ablauf, später begonnen ist so etwas die große Ausnahme geworden, heute aber scheint das fast unmöglich zu sein. Trotzdem besteht dieses Narrativ noch heute, wird es so erzählt und alle Strukturen der Gesellschaft betonen auch diese Richtung: Ausbildung, Arbeit, Familie, Eigentum schaffen, Kinder in die Welt setzen, glücklich in den Ruhestand gleiten und gesund alt werden.
Leider ist dem heute aber nicht mehr so, und die schon erwähnten Fragen stellen sich: Was und wer steht dem entgegen, usw. Betrachten wir das mal im Einzelnen. Die Schule, in die ich ging und in der ich meinen Schulabschluss machen konnte, war nagelneu. Ich hatte gute Lehrer und von Leistungsdruck war nicht viel zu spüren. Mit einem Realschulabschluss mit der Note „befriedigend“ konnte ich nur mit einer einzigen Bewerbung eine Lehre in der Großindustrie beginnen, und diese Firma stellte mir die Übernahme in eine unbefristete Stelle bereits beim Antritt der Lehre am ersten Tag in Aussicht, sofern ich nicht gerade die Silberlöffel meiner Chefs mitgehen ließe. Mit dem Abschluss der Lehre mit „befriedigend“ wurde ich unbefristet übernommen, habe dann mit nur zwei Wechsel innerhalb des Unternehmens 47 Jahre in meinem Beruf gearbeitet bis zum Ruhestand 2018. Die Rente, die ich dabei erreichen konnte, ist ausreichend, mein Arbeitgeber hatte für seine Mitarbeiter eine Pensionskasse eingerichtet, die gut funktionierte, und so kann ich heute, gesund und munter, mit 64 meinen Ruhestand genießen. Heute nähme mich mit meinem Schulabschluss kein Unternehmen mehr in diese Lehre, da beginnt es schon, denn mein Beruf wird nur noch mit Abitur zur Ausbildung zugelassen. Dann würde nach der Lehre erst mal eine zweijährige Probezeit beginnen, danach käme ein oder mehrmals hintereinander ein befristeter Arbeitsvertrag, und mit etwas Glück würden diese Verträge dann im Alter von 28 Jahren vielleicht in die „Un-Befristung“ übernommen. Dann kommen Arbeitnehmer mit meinem Beruf heute nicht so schnell wie in meiner Zeit in eine höhere Lohnstufe. Zwei oder sogar drei Stufen niedriger ist heute Standard. Und dann ist es fraglich, ob das Unternehmen einerseits so viele Jahre konstant besteht, andererseits diese Berufsgruppe überhaupt noch solange braucht oder nicht durch Verschlankungsumbau sogar Leute entlassen muss. Eine ungebrochene Arbeitslaufbahn ist heute eher selten geworden. Pensionskassen weisen heute nicht mehr so große Renditen aus, die Renten fallen niedriger aus, bedingt durch weniger Verdienst und durch Ausfallzeiten, die dann vielleicht sogar in Hartz VI enden können, was keine Rücklagenbildung mehr erlaubt, und was wiederum dazu zwingt, mit weniger Lohn zu arbeiten oder sogar (mal) in die Zeitarbeit abzudriften. Diese Erzählung ist eher dazu geeignet, heute normal genannt zu werden. Sie stimmt aber, wie schon auf den ersten Blick zu sehen ist, nicht mehr mit dem aktuellen Narrativ, der Gesellschaftserzählung, überein. Aber was hat sich verändert? Zunächst einmal sind die Schulen durch Reformen und Sparzwänge derart belastet, dass sie das nicht mehr leisten können, was 1965 noch Normalität war. Dann haben sich Anzahl und Qualität der Berufsausbildungen in den Unternehmen zum Negativen hin verändert. Viele Unternehmen bilden zwar noch aus, aber eine Übernahmegarantie gibt es schon lange nicht mehr. Dann sind die befristeten Verträge hinzugekommen, und sie werden ergänzt durch eine Abwertung der Berufe, die über eine Lehre vermittelt werden. Die inflationsbereinigten Einkommen in diesem Segment fallen seit Jahren schon, die Renten wurden massiv gekürzt und Pensionskassen werfen durch die Niedrigzinspolitik keine Renditen mehr ab (Man kann froh sein, überhaupt das zurückzubekommen, was man an Beiträgen eingezahlt hat.) Vielen droht daher Altersarmut und damit verbunden ein gesellschaftlicher Abstieg mit dem Renteneintritt. Dazu kommt noch ein stark gestiegener finanzieller Aufwand für Gesundheit und Pflege (Zahnersatz, Termine beim Facharzt, billige Medikamente).