Die Corona-Zeit und ihre Chance…

…Fehlentwicklungen zu erkennen und diese als veränderbar zu erkennen.

Ganz allgemein betrachtet leben wir gerade, zumindest scheint ein großer Teil der Menschen das so zu betrachten, in einer verrückten Zeit und Welt: Corona-Krise, Kontaktsperre, Shutdown, Ausgangs- und Versammlungsbeschränkungen, usw.

Für viele Menschen meiner Umgebung ist das nur eine zeitlich begrenzte Ausnahmesituation, die es möglichst ohne Verlust zu überstehen gilt. Ich denke darüber anders. Erstens ist für mich die Welt der Staus, die Welt der überfüllten Städte und Aufenthaltsorte wie Restaurants einschließlich der eng besetzten Büros und Werkstätten viel mehr eine verrückte Welt als jetzt gerade, wo Menschen aus meiner Sicht endlich etwas Abstand zueinander halten. Ich liebe es nämlich, von Zeit zu Zeit durchaus ausgiebig mit mir allein zu sein und meide nicht nur die typischen Rummelplätze, sondern überhaupt von Menschen überfüllte Orte. Nach einer Charaktereinteilung würde man mich daher ohne weiteres als Einzelgänger oder sogar als Einsiedler bezeichnen. Ich verbringe auch an normalen Tagen sehr viel Zeit zu Hause mit mir allein. Diese hetzende Geschäftigkeit, das Eilen von Termin zu Termin oder allgemeiner ausgedrückt das beständige „müssen“, mit der in normaler Zeit überall in der zivilisierten Welt 2020 hantiert wird, ist mir schon immer ein Dorn im Auge.

Jetzt erleben wir für ein paar Tage lang eine andere Welt. Die Schulen und Freizeiträume sind geschlossen, die Kinder also können endlich mal ausschlafen und ohne Druck sich in den Tag einfinden. Eltern lernen, was es heißt, ganze Tage mit ihren Kindern zu verbringen, obwohl da im Heimbüro ein Rechner mit Arbeit irgendwo in der Wohnung wartet und das Einkommen der Familie vom Gelingen dieser Tätigkeit abhängt. Vielleicht erlangen Lehrer gerade einen etwas anderen Status und man versteht, warum der Umgang mit Kindern und dazu auch noch mit Eltern, die ihre Kinder päppeln, so anstrengend ist. Die Straßen selbst der Innenstädte sind jetzt ganztägig befahrbar. Vor den noch offenen Geschäften stehen in langen Schlangen Kunden geduldig und mit großem Abstand. Kein Gedränge ist zu finden. Alle Menschen halten rücksichtsvoll Abstand zum nächsten. Besonders Kinder haben um sich herum gerade genug Raum, um sich orientieren zu können. Keine Flugzeuge überfliegen Häuser und Gärten mitten in den Essenszeiten. Stille scheint seit langer Zeit wieder einmal gegenwärtig zu sein. Die Liste der Beobachtungen von heute morgen könnte immer weiter gehen.

Was bringen uns diese Beobachtungen einer anderen Welt? Das ist die Frage, mit der ich diesen Artikel in Angriff genommen habe. Sind wir wirklich Helden, weil wir das einige Wochen lang durchhalten? Oder müssen wir nicht besser feststellen, das wir uns unsere normale Welt für den belebten Alltag ganz schön verhunzt haben und daher Helden wären, wenn wir mal endlich etwas Maß zu halten lernen würden? Hier werden die Meinungen sicher weit auseinander gehen. Auch ich vermisse zurzeit meine Yoga-Stunden, vermisse die gemeinsamen Meditation mit Freunden und die Massagen, die mir regelmäßig zu Wohlgefühl verhelfen. Und natürlich würde ich hier und da gerne eines der Geschäfte aufsuchen, in denen Waren des nicht-alltäglichen Gebrauchs verkauft werden. Das wären z.B. Büchereien, Bekleidungsgeschäfte, ein Restaurant und natürlich für mich auch mal der Elektronik-Fachhandel. Aber das war es dann auch schon aus meiner Sicht. Mehr vermisse ich zurzeit eigentlich nicht.

Was ich auch nicht vermisse zurzeit sind die Kondensstreifen am Himmel, sind die Geräuschkulisse der vollen Straßen und Autobahnen in der Nähe und die Geräusche der lautstark feiernden Mieter in den Kleingärten hinter meiner Wohnung. Ich genieße es zurzeit, am Verkaufstresen Platz zu haben und mich frei umschauen zu können. Niemand drängelt, keiner schubst und stößt mir seinen Atem in den Nacken. Und auch meine Fersen sind zurzeit geschützt vor dem unachtsamen Vorwärtsdrängen der Einkaufswagen im Supermarkt. Und da nur wenige Menschen zusammenstehen dürfen, komme ich in einem Gespräch, das sich hier und da trotzdem ergibt, auch einmal ungehindert und ohne Unterbrechung zu Wort. Und noch eine Beobachtung ist ganz wichtig für mich und von ganz besonderer Bedeutung: Innerhalb dieser Gespräche wird die Rede meist kurz gehalten und bewegt sich deutlich abseits der üblichen Floskeln.

Ich denke heute, das gerade diese Krisenzeit jetzt im Zuge der Corona-Einschränkungen eine wunderbare Gelegenheit anbietet, seinen gewöhnlichen Alltag und die selten beleuchteten Gewohnheiten darin zu hinterfragen. Hinterfragt werden kann nämlich nur dann etwas wirklich, wenn eine Alternative zu dem Motiv erfahren wurde. Früher waren das einmal Reisen, die fremde Sitten und Gebräuche nahegebracht haben und so eine andere Sichtweise ermöglicht haben. Wir denken da an Goethe und seine Italien-Reisen, oder an Marco Polo und seine Erzählungen zu China. Heute sind viele Reisen anders gestaltet. Ein Besucher in Venedig bekommt wenig mit von der Lebensfreude der nativen Stadtbewohner. Im Gegenteil, die Reisenden bringen ihre Form von Alltag mit in die ihnen fremde Welt. Die Zeit vor Corona und in Corona sehe ich daher wie zwei Bilder, die miteinander verglichen werden können. Beide sind von allen erlebt und damit allen gegenwärtig. Wir könnten darin erfahren, was wir wirklich lieben und was wir gerade vermissen, was uns fröhlich macht und was uns nervt, was eigentlich normal sein sollte und was von uns bisher niemals so gesehen werden konnte. Ich sehe das mehr und mehr wie eine Chance, die ein besseres und auch nachhaltigeres Verstehen ermöglicht.

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