Die Anschläge in Paris sind scheußlich, die Aufmärsche in Dresden sind peinlich, und die Presse als Ganzes lügt (oder nicht). Aber überraschend aufgetreten, aus dem nichts erschienen und vollkommen unerwartet sind diese Geschehnisse doch wirklich nicht.
Nehmen wir den Anschlag auf das Satiremagazin in Paris. Religiöse Fundamentalisten, das sollten gerade Europäer mit ihrer Geschichte des Christentums aus 1500 Jahren der Dunkelheit erkennen, verstehen Witze nicht. Und es gibt jetzt, bei aller Trauer, nicht nur die Frage, wie der aufflammende Fundamentalismus bekämpft werden kann. Die wichtigste Frage lautet, warum er entsteht und warum er besonders die Menschen erreicht, mit denen selbsternannte Herren auf der ganzen Welt schon immer ihre Kriege zu führen pflegten: Die jungen Männer. Junge Menschen dieses Alters sind leicht zu beeindrucken und daher auch leicht zu beeinflussen. Jeder, der Kinder erzogen hat, weiß das. Und wenn unsere Gesellschaft gerade diese Gruppierung gesellschaftlich abhängt, bildungstechnisch im Regen stehen lässt und ausgrenzt, indem ihnen keine Perspektive mehr angeboten werden kann, sollte sich nicht wundern, warum fundamentalistisches Gedankengut diese Lücke füllt. In vergangenen Zeiten konnten regelmäßige Kriege und das fundamentale Christentum diese Lücke ausgleichen. Heute kann es unter anderen der Islam. Die Satire ist wie das Kabarett eine Kunstform, die zum Bildungsbürgertum gehört wie der Narr zum Königshof. Könige werden beschützt, Narren nicht. So war es immer. Sie gehören zum Hof und sind daher ein leichtes Ziel für Attentäter. Ihr Leid trifft dann auch immer den König.
Nehmen wir „Pegida“ und die Aufmärsche in Dresden. Hier sind es nicht nur die jungen Männer, sondern Bürger aller Altersgruppen, die zum Protest auf die Straße gehen. Und wir sehen, dass gewaltbereite Gruppierungen diesen Protest nutzen, um die Stimmung aufzuheizen. Da versammeln sich ebenfalls die Abgehängten und gesellschaftlich Vergessenen und machen darauf aufmerksam, dass hier in diesem Lande etwas nicht mehr stimmt. Da treffen Armut, Beschäftigungsmisere und Bildungsnotstand auf ein Bürgertum, das die Existenz dieser Zustände ignoriert und verleugnet. Diese Abgehängten können sich nicht selbst organisieren und sich nicht ausreichend artikulieren. Dazu fehlen ihnen die Mittel und das Wissen um die Möglichkeiten. Und daher geben sie ihren Unmut in Veranstaltungen kund, die bereits organisiert sind, egal von wem. Willkommen in Dresden.
Und dann erwähnte ich noch die Presse, die (nicht) lügt? Es handelt sich dabei um Beschäftigte, die sich naturgemäß aus dem Bildungsbürgertum rekrutieren. Das sind Menschen, die sich artikulieren können, Wissen und daher auch Einfluss besitzen und eben nicht zu den Abgehängten gehören. Sie schreiben und berichten daher das, was sie aus ihrer Perspektive sehen und diese Perspektive ist die des Bildungsbürgertums. Und dieses Bürgertum ist glücklich und zufrieden in und mit dieser Gesellschaft. Sie werden von ihm getragen und bewegen sich ausschließlich in Kreisen, die von den Problemen der Ausgegrenzten schon lange nichts mehr wissen kann. Man sieht dies an der Verständnislosigkeit, die Berichterstatter, Moderatoren und Schreiber Argumentationen gegenüber zeigen, die sich nicht in der „alles ist gut“-Schiene (Mainstream) bewegen. Hier und da mal eine kleine Kritik sei erlaubt, hier und da ein Reförmchen, ein bisschen Satire und Kabarett, und dem gesellschaftlichen Gewissen ist genüge getan. Sie lügen nicht. Sie wissen es nicht besser.
Heute bleibt scheinbar nur noch der fundamentale Islam und rechtradikales Gedankengut als Lückenfüller für (leider auch) gewaltbereiten Protest. Dieser steht fast immer gegen und selten für etwas. Und wenn Menschen ihre Not nicht artikulieren können, sind es nun einmal einfach nur die Anderen, die eben, die nicht wie ich sind, die Schuld tragen. Wir sehen heute in Europa Millionen junge Menschen aufwachsen, denen wir keine Perspektive bieten können. Sie bekommen keine Arbeit mehr sondern nur noch Jobs (kurzfristige Beschäftigung: hire und fire). Und wir erlauben uns eine Altersarmut, die die betroffenen Menschen, die ein Leben lang hart gearbeitet haben, nicht verdienen. Wir sehen unser Sozialgefüge korrodieren, nicht weil es zu schwach ist, sondern weil wir Bildungsbürger gegen es Stimmung machen und uns stattdessen lieber Geschäftemachern anvertrauen, die versprechen, unseren Bürgerstatus (im Kapitalismus ist das Reichtum) weiter nach oben treiben zu können. Wenn es klappt: schön, wenn nicht: abgehängt und ausgegliedert. Und daher die Angst, auch zu den Abgehängten gehören zu können und damit im ungesehenen, schweigenden und verarmten Prekariat zu verschwinden. Daher ist es für den Etablierten ratsam, lieber auf Sicherheit zu gehen und mit zu schwimmen: Mainstream und Wegschauen.
Alles in Allem ist das ein unheimliches Gefüge, dass gesehen und über das berichtet werden müsste. Und dafür genügt eine Reportsendung zu später Stunde einfach nicht. Dazu wäre die Tagesschau, das Heute Journal und die Bildzeitung zuständig, dazu wären Diskussionen zu bester Sendezeit und Brennpunkte notwendig. Und dazu braucht es Moderatoren, die nicht bereit sind, wegzusehen, die andere Meinungen respektieren und Raum geben, und die helfen, wenn eine Meinung aus welchem Grund auch immer selbst nicht medienwirksam artikuliert werden kann. Dazu müssten wir Bildungsbürger nicht gegen die Vergessenen, sondern mit ihnen demonstrieren. Helfen müssten wir, den wichtigen und gerechten Protest einer wachsenden Minderheit ins allgemeine Bewusstsein zu tragen. Wir dürften nicht ausgrenzen und verleumden, nicht abwerten und bloßstellen.
Wir als Gesellschaft müssen –zusammengefasst- denen wieder eine Stimme geben, die selbst keine Stimme (mehr) haben. Gelingt das nicht, wird es weiter unselige Anschläge, wird es weiter peinliche Aufmärsche und weitere Pressebeschimpfungen geben.