POST-Selbstverständlich

Wer aufmerksam die Nachrichten der letzten Tage und Wochen verfolgt, kann nicht umhin, dem gültigen Wort „Selbstverständlich“ eine Silbe vorauszustellen, die „post“ (nach) oder „extra“ (außerhalb) lauten könnte. Wie der Demokratie, der wir schon häufig die Vorsilbe „post“ vorausstellen, um zu beschreiben, wie sich diese Staats- oder Verwaltungsform in der heutigen Zeit darstellt, scheint auch das Selbstverständliche, oder das, was als selbstverständlich gedacht und angesehen wird, sich heute in anderen Formen zu zeigen, als dieses Wort zumindest in der Wortbedeutung eines Wörterbuchs beschrieben wird.
Da gibt es zunächst einmal Behörden, meist ungeliebte Verwaltungsapparate, von denen wir bislang glaubten, dass sie ihre Arbeit zwar langsam, aber gründlich zu machen pflegen. Meiner Generation galt dieses zumindest noch als selbstverständlich. Heute scheint es so zu sein, dass diese Organisationen sich lediglich noch damit beschäftigen, die Status quo aufrechtzuerhalten oder zumindest keinerlei Anpassungen mehr zuzulassen. Da werden Arbeitslosigkeit und Armut nur noch verwaltet und statistisch geschönt, werden öffentliche Einrichtungen wie Renten-, Gesundheits- und Sozialversicherungen zielgerichtet zerstört, ohne funktionale Alternativen bereitzustellen, werden Soldaten mit Material ausgerüstet, mit dem man nicht treffen, fliegen oder sich schützen kann und Gesetze scheinen nicht mehr bindend zu sein, sondern hier wird wie bei Spionage nach Freund und Feind willkürlich unterschieden. Schutzorganisationen wie Verfassungsschutz und BND erfüllen nicht nur nicht ihre Aufgabe, sondern arbeiten produktiv gegen ihren Auftrag und verbünden sich in krimineller Weise mit den Kräften, vor denen sie schützen sollen. Anwälte beschäftigen sich nicht mehr damit, dem Recht zu dienen, sondern suchen nach Lücken, Umgehungen und Beugungen desselben Rechts, das zu schützen sie vorgeben.
Ich glaube es wird verständlich, worauf ich mit meinem Schreiben zeige. Nun ist man heute gerne bereit, diese Veränderungen dem Zeitalter, der Globalisierung, den schnellen gesellschaftlichen Wechseln oder auch einfach nur der Politik zuzuschreiben. Diese Erklärung mag auf den ersten Blick nachvollziehbar sein, aber leider hält diese Ansicht einer tieferen Analyse nicht stand. Womit wir es zu tun haben sind tiefe strukturelle Risse am Fundament unserer Gesellschaft, die sich mit Reförmchen hier und da leider nicht werden korrigieren lassen. Die Missstände, die sich oft auf technische Entwicklungen oder einfach nur Modeerscheinungen stützen, wurzeln so tief, das sie sich einer oberflächlichen Glättung widersetzen.
Wir müssen uns heute wieder mit einigen Grundbegrifflichkeiten auseinandersetzen und diese erneut oder auch vollkommen neu definieren. Begriffe wie Macht, Recht, Gesetz gehören ebenso dazu wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit.
Die ersten der genannten Begriffe setzen einer Gesellschaft die Rahmenbedingungen, in denen ein konformes Leben möglich ist. Dazu wäre es aber notwendig, dass die Teilhabe an den Säulen Exekutive, Legislative und Judikative jeweils nur exakt getrennt ausgeübt werden kann. Und es ist zu bedenken, ob nicht die Medien einen vierten Platz auf gleicher Höhe bekommen müssen. Abgeordnete müssten auch über Parteigrenzen hinaus frei entscheiden können. Mitglieder der Regierung sind vor allem Anderen ausführende Organe, die eben nicht allein die Richtung der Politik bestimmen können dürfen. Richter müssen immer unabhängig sein. Daher sollte ihre Ernennung auch von einem unabhängigen Gremium ausgesprochen werden. Dazu aber sind nur Parlamente imstande, die sich eben nicht parteilich einschränken lassen. Die Aufgabe und Funktion der Medien muss komplett neu durchdacht und gesetzlich umhegt werden. Es kann und darf nicht sein, dass die Presse nur auf Verkaufszahlen oder Gewinn ausgerichtet ist und nach Herzenslust verleumden, vorverurteilen und bloßstellen darf.
Es muss nachgedacht werden über die Rolle und Organisationsformen der Parteien, der Abgeordneten, der Regierung und der Ministerien. Es muss darüber nachgedacht werden, wie Staatsanwälte, Richter und andere gesellschaftlich wirkende Organe zu Einrichtung und Wirkung kommen und welche Grenzen besonders medienwirksamen Organisationen auferlegt werden müssen, um das Recht aller zu schützen.
Die Diskussion, was gerecht, frei und gleich sein kann ist nur durch einen offenen Disput zu verwirklichen. Jede „politische Korrektheit“, jedes Dogma und jede Eingrenzung ist fehl am Platz. In einem offenen Diskurs darf jede Ansicht vertreten werden. Dazu gehören auch Meinungen, die mit politischen Moden, dem Gesetz oder sogar einer vertraglichen Festlegung unvereinbar sind. Keine Äußerung, die Meinung ist, darf so gesehen einen Bürger diskreditieren können. Meinungen sind so frei wie Träume.
Wir müssen auch die Demokratie neu erfinden. Die bisherige Form entstand aus der Einschränkung, dass Abstimmungen immer der Zusammenkunft und Auszählung bedurften. Mit den neuen Kommunikationsformen und der elektronischen Datenverarbeitung sind Information und Abstimmung in ganz anderen Dimensionen möglich. Das gilt sowohl für die Volksbefragung als auch für Abstimmungen in Gremien und Parlamenten.
Wir brauchen ein neues Geldsystem, in dem der Staat, also die Gemeinschaft aller die schöpfende Kraft ist. Nicht der Etat sollte bestimmen, sondern die Notwendigkeit. Nicht Gewinnmaximierung, sondern der Bedarf bestimmt über die Geldmenge, die zur Verfügung steht. Der Umweg über die Bank ist weder notwendig noch sinnvoll. Des Weiteren sollten Infrastruktur und Netzstrukturen wie Strom, Gas, Internet, Verkehr und so weiter immer unter staatlicher Kontrolle verbleiben. Auch dazu müssten lediglich Rahmenbedingungen gesetzlich festgeschrieben werden, in denen eine Versorgung auch durch private Betreiber möglich sein kann.
Wir müssen zusammenfassend gesagt unsere Strukturen überdenken und bereit sein zu neuen Voraussetzungen zu kommen. Wir können nicht ewig am „Bewährten(?)“ festhalten.

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