Was für eine erfolgreiche Sozialdemokratie also nötig wäre ist ein Umdenken in der Klassifizierung ihrer Wählerschaft. Sie müsste ihr Potential erweitern und zusätzlich die Unterschicht ansprechen, müsste die Gewerkschaften wieder zu stärken suchen und diesen Möglichkeiten verschaffen, im Prekariat organisatorisch Fuß zu fassen. Die prekär Beschäftigten konnten sich nicht organisieren, sind vereinzelt und haben daher auch keine Ansprechpartner, die ihnen zu einem Klassenbewusstsein verhelfen könnten. Weiterhin müsste eine erfolgversprechende Sozialdemokratie damit aufhören, Klassenangehörige anzusprechen, die für einen Klassenkampf weder Zeit haben noch eine Notwendigkeit dazu sehen.
Im meiner ganz persönlichen Sicht ist die Sozialdemokratie heute vollkommen desorientiert. Sie spricht ihre potentiellen Wähler nicht an, erkennt sie nicht einmal mehr und balgt sich statt dessen mit anderen um eine Wählerschicht oder Klasse, die sich sowieso bei anderen Parteien besser aufgehoben fühlt. Das sind die heute Bio- und Ökologie verliebten Grünen, die ihre Anfänge in der Friedensbewegung vergessen zu haben scheinen und deren Anhänger schon vom Lebensstil her nicht arm sein können, weil ökologisch korrekte Güter immer teuer sind. Da ist die liberal-neoliberale FDP, die als Partei für Aufsteiger und Mainstreamer ihre Klientel hervorragend bedient, da sind die christlichen Parteien, die konservativ bis reaktionär sich darstellen und ein „weiter so“ pflegen, und dann gibt es die AfD, die selbst ohne die geringste Programmatik die von Wut und Resignation gebeutelten Schichten schon vom Stil her besser anspricht, als das die bildungsbürgerlich geführte Sozialdemokratie jemals könnte. Für das, was die SPD aktuell darzustellen versucht, gibt es somit mit dem Siegeszug des Neoliberalismus eigentlich keinen Bedarf mehr. Sie ist unbrauchbar geworden im Gefüge der Macht. Ihre einzige Rolle besteht in der Beschaffung einer Mehrheit in Koalitionen, wie sie das für die Linke und die Christdemokraten heute schon tut. Sie löst die FDP in ihrer früheren Rolle ab: Gedankenlos, zu jeder Schandtat bereit, stellt sie die wenigen Fleißigen in den Regierungen, um dann anderen die Vermarktung der wenigen Erfolge zu überlassen. Die SPD hat ihr Profil verloren, ist heute nur noch ein nützlicher Steigbügelhalter. Im Grunde genommen war es in ganz Europa ein Fehler, sich als Sozialdemokrat und Sozialist vom Klassenbewusstsein zu verabschieden. Dieses würde aber dringend benötigt, wenn Mehrheiten für eine klassisch sozialdemokratische Politik erreicht werden sollen.
Weiterhin hat die Sozialdemokratie vergessen, das Frieden eine Grundbedingung für Freiheit und Sicherheit bedeutet. Sich international an Kriegen und Verteilungskämpfen zu beteiligen, egal ob mit Waffen und/oder nur mit Propaganda, deren Erfolge nicht nur nicht der eigenen Arbeiter- und Angestelltenklasse zukommen werden, sondern diese sogar schädigt, ist gegen die Grundüberzeugungen eines jeden Sozialismus gerichtet. Man hat wohl vergessen, das alle Menschen Brüder sein sollen, wie ihr Liedgut, das ja nach wie vor gepflegt wird, unmissverständlich auszudrücken versucht. Brüder helfen einander und bekriegen sich nicht.
Drei Jahre hat die Sozialdemokratie noch Zeit in Deutschland, um sich zugunsten des Überlebens zu wandeln. Die nächsten Wahlen in allen Ländern Europas werden, wie es zurzeit aussieht, furchteinflößende Ergebnisse für sozialistische Parteien liefern. Das sollte schon jetzt als Warnschuss verstanden werden. Weitere drei Jahre unberührt verstreichen zu lassen, wird, so fürchte ich, auch in Deutschland in ein einstelliges Wahlergebnis führen.
Und gerade als ich den Artikel schon ins Netz stellen wollte, lese ich, das das Organ der SPD, „Vorwärts“, die linke Sammlungsbewegung, die sich gerade formiert und sich vor Beteiligung fast nicht retten kann, als „Bewegung der Verlierer“ 1 bezeichnet. Dem kann ich nur zustimmen. Die Sammlungsbewegung „aufstehen“ ist eine Bewegung der Verlierer, und zwar von verlorengegangenen Wählern und enttäuschten Parteimitgliedern, die unsere superben linken Parteien mit ihrem neoliberalem und imperialem Unsinn zu „Verlierern“ gemacht haben, zu Verlierern des Glaubens an eine friedliche Zukunft nämlich. Von den anderen Parteien sollte man irgendwas mit einem Wort über gesellschaftlichen Frieden im gleichen Satz schon gar nicht mehr schreiben. Die Wahrheit ist, das es bereits so sehr viele dieser Verlierer gibt, die, wären sie sich einig und würden sogar noch wählen gehen, locker eine parlamentarische Mehrheit erhalten würden. Dazu zählen natürlich auch die Wähler der AfD, die ja vorher wohl oder übel mal anders gewählt haben werden, denn solange gibt es diese Partei ja doch noch nicht. Und hier versucht die neue Sammlungsbewegung ja auch anzusetzen, versucht, die Verlorengegangenen ins politische und demokratische Feld zurückzuholen. Das wurde auf der Presskonferenz klar und deutlich zum Ausdruck gebracht.
Von einer Partei wie der SPD, die innerhalb einer überschaubaren Zeit ihr Wahlergebnis gedrittelt hat (bedeutet ja wohl: Sie hat zweidrittel ihrer Wähler verloren und ist daher natürlich der ganz große Gewinner?), würde ich etwas mehr Realitätssinn erwarten.
- Ein Artikel übrigens, der jeden, der die Pressekonferenz der Sammlungsbewegung gesehen hat, fassungslos machen muss. Dagegen sind ja Trump’s Lob- und Hetzgesänge fast realitätsgetreue Beschreibungen der Wirklichkeit. ↩