Die Debatte ist entbrannt, wie mit einer neuen Gruppierung umzugehen sei, die sich zunehmend erfolgreich auf der politischen Bühne etabliert. Das sie Zuspruch bekommt, ist aus den Wahlergebnissen unzweifelhaft ablesbar, und die Reaktionen der etablierten Parteien, die von Totstellen über Aggressivität bis zum Flüchten reichen, zeigt die Hilflosigkeit, mit der ihre maßgebende Vertreter diese der neuen Bewegung gegenüberstehen.
Man mag über die AfD denken, meinen oder sagen, was man will, aber in einem demokratischen System wie dem unseren ist eine Partei solange eine ernst zu nehmende Kraft, solange sie sich an Gesetze und Regelungen hält, die für Parteien vorgeschrieben sind. Und meines Wissens ist dieser Partei bisher nichts oder nur sehr wenig vorzuwerfen. Und die wenigen Kleinigkeiten, die hier genannt werden könnten, sind bei anderen Parteien ebenfalls zuhauf vorzufinden. Ich denke da an viele Parteispenden, Vorteilsnahmen im Amt und die allseits große Vergesslichkeit, wenn in Ausschüssen und Rechtsstreitverfahren zu Themen befragt wird.
Die AfD ist wie einst die Linke oder die Grünen in der Opposition. Dort ist es einfach, Versprechungen zu machen, zu kritisieren und zu emotionalisieren, da in der Regel diese Akte ja nicht zu Taten führen müssen. Das ist in der Diskussion und der Darstellung ein klarer Vorteil anderen Parteien gegenüber. Das gab es auch für andere Parteien in anderen Zeiten, und jeder, der diese Zeiten mit Aufmerksamkeit verfolgt hat, kann dies auch klar belegen. Es gibt eine neue Partei, das ist Fakt, und es ist Aufgabe und Pflicht der anderen Parteien, sich mit der neuen Lage auseinanderzusetzten. Da hilft weder Jammern noch Unverständnis noch Ignoranz. Da kann man nicht blockieren, aussitzen oder auf ein Wunder hoffen. Hier ist Arbeit und sind Taten gefragt!
Ich möchte in der Folge einige Aussagen dieser neuen Partei aufzählen und einiges aus deren Grundsatzprogramm herausziehen und kommentieren:
Aus der Präambel: (…) Wir wollen die Würde des Menschen, die Familie mit Kindern, unsere abendländische und christliche Kultur, die historisch‐kulturelle Identität unserer Nation und ein souveränes Deutschland als Nationalstaat des deutschen Volkes und ein friedliches Miteinander der Völker auf Dauer bewahren.
Man mag sicherlich darüber streiten, ob ‚abendländisch‘ oder ‚deutsch‘ zu den erhaltenswerten Kulturgütern zu rechnen ist, auch ist die allein auf christliche Werte abgestellte Formulierung sicherlich diskussionsbedürftig, aber wenn ‚bayrische‘ Werte für die CSU und ‚hanseatische‘ Werte für Teile der SPD Gültigkeit besitzen und ‚christlich‘ bei der Union sogar im Namensteht, gibt es zu der oben genannten Aussage aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht auszusetzen.
Aus Demokratie und Grundwerte: (…): Heimlicher Souverän ist eine kleine, machtvolle politische Führungsgruppe innerhalb der Parteien. Sie hat die Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte zu verantworten. Es hat sich eine politische Klasse von Berufspolitikern herausgebildet, deren vordringliches Interesse ihrer Macht, ihrem Status und ihrem materiellen Wohlergehen gilt. Es handelt sich um ein politisches Kartell, das die Schalthebel der staatlichen Macht, soweit diese nicht an die EU übertragen worden ist, die gesamte politische Bildung und große Teile der Versorgung der Bevölkerung mit politischen Informationen in Händen hat. Nur das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland kann diesen illegitimen Zustand beenden.
Die Grundaussage dieses Abschnittes teilen sehr viele Menschen in diesem Land, darunter auch viele Mitglieder und Stammwähler etablierter Parteien. Und diese Stimmung gibt es in der politischen Landschaft von Rechts- bis Linksaußen. Ob allerdings Volksabstimmungen über alles und jedes der richtige Weg sind, um die Missstände zu beheben wage ich zu bezweifeln. Das Staatsvolk hat sich in unserer Geschichte oft und regelmäßig zu spontanen Ausbrüchen hinreißen lassen, die mit einer soliden Staatsführung nicht zu vereinbaren sind. Allerdings gibt es durchaus richtungsweisende Entscheidungen, die meiner Meinung nach dem Souverän (Staatsvolk) zu Abstimmung vorgelegt werden sollten.
Aus Schlanker Staat für freie Bürger: (…) Die ständige, vielfach ideologiegetriebene Expansion der Staatsaufgaben stößt an finanzielle und faktische Grenzen. Sie bedroht inzwischen den Kerngehalt der elementaren Freiheitsrechte der Bürger. Der Staat hat sich verzettelt. Es bedarf neuer Konzentration auf die vier klassischen Gebiete: Innere und äußere Sicherheit, Justiz, Auswärtige Beziehungen und Finanzverwaltung.
Aufgaben jenseits dieser vier Kerngebiete bedürfen besonderer Rechtfertigung. Wir wollen prüfen, inwieweit vorhandene staatliche Einrichtungen durch private oder andere Organisationsformen ersetzt werden können. Die gewaltige demographische Problemlage, die uns in Deutschland bevorsteht, wird uns zu einem veränderten Staatsverständnis zwingen.
Hier beginnt erstmals der rechts-konservative sprich neoliberale Kern des Staatsverständnisses der AfD sich zu zeigen. Das sich konzentrieren auf die genannten Staatsaufgaben und die Reste dem Markt zu überlassen zu haben (private und andere Organisationsformen genannt) verdanken wir ja gerade das Desaster, das durch die Reformen Schröders (SPD/Grüne) angerichtet wurde. Prekäre Beschäftigung, Altersarmut, Deregulierung der Finanzmärkte, Aushöhlung der Arbeitnehmerrechte und Schwächung der Gewerkschaften sind ja gerade die Ursachen für unsere Probleme. Hier wurde in die falsche Richtung reformiert und in Kauf genommen, das weite Teile der Menschen am Gesellschaftsleben nicht mehr teilhaben können. Meiner Ansicht nach wäre die Umsetzung dieses Abschnitts oben durch eine Regierung ein Weitergehen genau in die falsche Richtung.
Vieles der Auflistung des Grundsatzprogramms liest sich wie ein kritischer Dialog mit heutigen Zuständen und vieles fände auch mein Einverständnis, wäre da nicht die große Lücke zwischen der Beschreibung des Istzustandes und der Mittel, die zu einer Veränderung führen könnten. Volksabstimmungen, weniger Staat und mehr Markt sind als Mittel immer wieder genannt, die eine Änderung herbeiführen sollen. Das die Macht der Parteien beschnitten werden müssen, ist unstreitig, die Frage ist aber wie das zu geschehen habe. Ähnlich ist die Frage zu stellen wie Lobbyismus, Berufspolitikertum und Parteienfinanzierung neu geregelt werden könnten, ohne die Institutionen im Chaos versinken zu lassen. Wir sehen doch gerade in unseren Nachbarländern, wie schwierig dies im aller Regel sich darstellt.
Weg von Europa, weg vom Euro und mehr Kompetenz an Nationalstaaten erscheint mir als der falsche Weg in die Zukunft. Europa und der Euro sind eine der großen Säulen unseres wirtschaftlichen Erfolges als Exportnation. Die großen Kompetenzen in Europa liegen doch nach wie vor in der Macht der Nationalstaaten. Daran krankt Europa ja seit Jahren, das nämlich zu viele Staaten zu viele verschiedene Vorstellungen entwickeln und nur Einigkeit eine Regelung ermöglicht. Auch hier in der Europa/Euro-Frage sehe ich die AfD in der falschen Richtung unterwegs sein.
In Sachen innere Sicherheit und Justiz steht die AfD für Verschärfung jeglicher Art. Mehr Polizei, mehr Rechte für Polizei und Justiz, höhere Strafen und kein Datenschutz für Täter sprechen eine eindeutige Sprache: Hier wird mehr Ordnungsmacht gefordert.
Weiterhin Thema des Grundsatzpapiers ist eine Reform der UNO (schwieriges Thema für ein kleines Land) und eine Stärkung der deutschen Aktivitäten in der Nato. Darin unterscheidet sich die neue Partei nicht von den etablierten Parteien mit Ausnahme der Linken. Die Bundeswehr soll gestärkt werden und die Wehrpflicht soll wieder eingeführt werden. In der Entwicklungshilfe ist „Hilfe zur Selbsthilfe“ gefordert, wobei deutsche Interessenlagen stärker zu berücksichtigen sind. Weiterhin wird eine Einbindung von privaten Organisationen befürwortet. Soweit ich das beurteilen kann ist hier keine Änderung zur jetzigen Praxis beschrieben. Auch die Vorstellungen zur Arbeitsmarkt und Sozialpolitik könnten durchaus im Programm anderer Parteien stehen, ohne aufzufallen. Mindestlohn, Aufwertung der Pflege, mehr Kinder, mehr Familie und Arbeit muss sich lohnen sind überall und besonders im sich abzeichnenden Wahlkampf überall zu hören. Auch hier gibt es wenig Neues.
Schwierig wird es dann für mich in Kapitel 7 mit Kultur, Sprache und Identität. Zunächst einmal sehe ich weder eine deutsche Sprachkultur, keine deutsche Identität und vor allen Dingen keine deutsche Leitkultur. Unsere Verfassung spricht von Staatsbürgern, nicht von Kulturbürgern oder Sprachbürgern und kennt keine Leitkultur. Wer sich verfassungskonform verhält in diesem Land, kann sprechen und denken wie er möchte und sein Leben frei gestalten. Dazu stehe ich und das werde ich nicht in Frage stellen. Ich kenne viele Menschen, die man unfein als Migranten bezeichnet, die viel deutscher sind als ich und die gerne und voller Überzeugung diesen Staat stützen. Es ist weiterhin ein Widerspruch darin, Kultur und Kunst von staatlicher Einflussnahme befreien, aber eine deutsche Leitkultur etablieren zu wollen. Multi-Kulti abzulehnen in einem Land, das gerade durch Einwanderungen zu seinem jetzigen großen Erfolg gekommen ist, wird schwierig werden. Die Abschnitte des AfD-Programms, die sich mit dem Islam beschäftigen, stellen meiner Ansicht nach das Grundrecht der Religionsfreiheit in Frage.
Die weiteren Abschnitte zu Bildung, Verbraucherschutz, Integration von Neubürgern, Energiepolitik bis zu Stadtentwicklung entsprechen einer rechtskonservativen Grundhaltung, wie sie in den Siebziger- und Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts gesehen wurden. Das ist sehr alter Wein in sehr alten Schläuchen. Ich sehe darin nichts aufgeführt, was eine Neuausrichtung zur Bewältigung bestehender Probleme bewirken könnte.
Als Fazit meiner Lesestunde im Grundsatzprogramm der AfD ist einfach und in wenigen Worten zu beschreiben:
Das Programm beschreibt die Problemfelder unserer Gesellschaft sehr eindringlich und nachvollziehbar. Allerdings sind die Vorschläge, die zu einer Erneuerung führen sollen, entweder alt und aus längst vergangenen Zeiten übernommen (neoliberale Wirtschaft, deutsche Leitkultur, mehr Ordnung) oder unterscheiden sich nur kläglich von den Vorstellungen der etablierten Parteien. In meiner Vorstellung haben diese alten Wege zum Desaster geführt, über das wir immerzu sprechen. Zurück zu alten Werten scheint mir daher kein Weg zu sein, und neue Wege sind nicht in Sicht oder nicht mehrheitsfähig. Auch mit der AfD in Verantwortung würde es also so holprig weitergehen wie bisher. Gefährlich ist diese Partei daher nicht, und heiße ich sie in den Parlamenten willkommen. Ich freue mich auf die Debattenbeiträge der Zukunft mit ihr und über sie und die Bewegung, die dann in die Langeweile des Plenarsaales Einzug halten wird, denn an Etikette und Diskussionskultur hat so mancher der künftigen Abgeordneten der AfD, wie in Länderparlamenten gut zu sehen, noch zu arbeiten. Meiner Einschätzung nach wird die AfD aber programmatisch rechts neben der CSU gar nicht groß auffallen.
Die AfD ist gut für unsere Demokratie, denn sie vertritt die Meinung einer großen Zahl von Bürgern. Ob mir diese dann auch gefällt oder nicht ist eine ganz andere Frage. Ich plädiere für allgegenwärtige Toleranz zu dieser Partei und ihren Vertretern, was ja in der Übersetzung sowieso mehr „ertragen“ und weniger „lieben“ bedeutet.
Ich habe mir vorgenommen, auch die Programme der anderen Parteien einer Lesestunde zu unterziehen. Darauf bin ich jetzt schon gespannt und auch schon etwas gelangweilt! Was aber sein muss, muss sein!