Orientierungsdefizite?

Wir müssen uns mehr und mehr fragen, wie und in welch einer Welt wir zu leben gedenken. Unsere Welt ist komplex und unübersichtlich geworden, nicht nur politisch und sozial, sondern auch in Bezug auf Zugehörigkeiten in der Gesellschaft. Die Klasse (Arbeiter, Angestellte, Unternehmer) hat zumindest in Deutschland eigentlich schon lange ausgedient, trotzdem scheinen nicht wenige unserer Mitmenschen diese Zugehörigkeiten zu vermissen. Ähnlich geht es politischen Zuordnungen (links, liberal, konservativ, rechts, sozial, ökologisch), bei Fragen der Abstammung (europäisch, nordafrikanisch, asiatisch), der Religionszugehörigkeit (islamisch, christlich, jüdisch) oder anderen Orientierungen (sexuell, kulturell, zeitlos, esoterisch, spirituell).

Der Soziologe Nassehi fasst dieses sogenannte moderne Orientierungsdefizit zusammen in dem Satz: Wir leben medientechnisch in einer digital organisierten Welt, nehmen diese aber nur analog wahr. Und wir sind auf diese Medienwelt angewiesen, um unsere sogenannte Staatsbürgerpflicht erfüllen zu können (z.B. wählen). Dieser Vergleich von einer Gesellschaft mit technischen Strukturen hinkt natürlich wie jeder andere Vergleich auch, aber er trifft doch zumindest von der Komplexität der zum Verständnis der Frage notwenigen Vorstellungskraft den Kern der Sache. Analog bedeutet in diesem Zusammenhang, dass bei der Weitergabe und Verbreitung einer Information (Nachricht) genau das bei einem Empfänger ankommt, was der Sender auch absendet. Digital meint hier, dass eine Information beim Sendevorgang mit anderen Inforationen durchmischt wird und dem Empfänger somit die Aufgabe überträgt, die richtige Information aus dem neuen Kontext auszuwählen. Da wir aber keine wirklich freie berichtende Presse mehr wahrnehmen können, müsste sich der Einzelne für diese Aufgabe umfassend aus verschiedenen Quellen und Medienangeboten informieren. Das ist für die breite Mehrheit weder zeitlich noch (seien wir ehrlich…) intellektuell zu schaffen.

Nun fällt aber auf, dass dieses Orientierungsdefizit, das beklagt wird, eigentlich doch das Gewollte darstellt. Wir wollten und wollen doch multikulturell, weltoffen, säkular, selbstbestimmt, gleichberechtigt, freiheitlich und human sein und leben, haben dies auch über eine geraume Zeit hinweg durchgehalten und stellen nunmehr nur fest, dass auch hier „das Wetter an der Fassade nagt“ und nicht alles so rosig und leicht erscheint, wie wir es uns mal vorgestellt haben. Das Problem dabei, das sich innerhalb von so komplexen Gesellschaften nur revolutionäre oder reformatorische Maßnahmen Anpassungen vornehmen können, und dass erschwerend beide Möglichkeiten sich gegenseitig ausschließen. Die Revolution als Anpassung an eine neue modernere Welt würde ich direkt ausschließen, bleibt also nur die Reform. Nun stellen sich die Fragen:

  • Wie reformieren wir Weltoffenheit? Geht ein bisschen fremdenfeindlich?
  • Wie reformieren wir human? Geht ein wenig mehr rassistisch?
  • Wie reformieren wir Freiheit? Gibt es Ausnahmen zu säkular und zu freiheitlich?
  • Wie reformieren wir Gerechtigkeit? Geht es auch etwas weniger sozial?

Nicht wenige meist lautstarke Mitbürger scheinen hier kein Problem zu sehen, und Politiker aller Couleur scheinen sich auch nicht daran zu stören, wenn mit Ausgrenzungsabsichten und „Wir sind wir“-Parolen von der Straße auf die politische Gestaltung massiv Einfluss genommen wird und beteiligen sich massiv auch noch selbst daran. Und eine schweigende Mehrheit schaut dem Treiben entspannt zu und sagt eindeutig: „Ich weiß auch nicht, was da so los ist und ich will es auch gar nicht (mehr) wissen. Schauen wir mal…“

Soweit zur Beschreibung des Feldes, mit dem wir es meiner Meinung nach zu tun haben. Die Frage, die sich stellt, heißt aber nicht, wie wir die Straßenkämpfer (z.B. Pegida) und andere unruhige Geister (CSU) beruhigen können, sondern die Frage lautet, wie sich die schweigenden 80% der Bevölkerung aktivieren lassen, die scheinbar jede noch so hohle Phrase aus der Politik und den Medien schlucken und uninteressiert ihren Alltag leben zwischen Job, Whatsapp, Shopping und Weekend. Sie, die uninformiert sind (Politik ist langweilig!) und bleiben wollen (Wir können doch eh nichts machen!) und die bei der nächsten Wahl uninteressiert nach der gerade aktuellen Stimmung (Hochwasser, Köln, Berlin, Trump) ihr Kreuz machen werden sind die eigentliche Zielgruppe, deren sich der politisch informierte Teil der Akteure annehmen müssen. Aber wie können diese Menschen noch oder wieder erreicht werden. Darüber würde ich mir eine umfassende öffentliche Diskussion wünschen.

 

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