Wenn man Nachrichten und Beiträge zur Zeitkritik aufmerksam verfolgt, kommt die Idee sehr schnell in den Sinn, dass wir in einer Zeit leben, in der eine Rückbesinnung auf alte längst überwunden geglaubte Werte stattfindet.
Konservativ ist hier nicht allein mehr der richtige Ausdruck für diese Phänomene, sondern dazu kommen müssten fundamentalistische, dogmatische Elemente sowie eine Neigung, intoleranter als bisher zu sein, es also nicht mehr so leicht zu ertragen, dass es Menschen gibt, die anders sein, leben und denken wollen als wir selbst. In einer politisch linken Begrifflichkeit wäre „reaktionär“ durchaus ein treffender Ausdruck, aber auch dieser beschreibt das sich bietende Bild nicht vollständig, zumal der Begriff besetzt ist und von konservativen Kreisen überwiegend abgelehnt wird. Fächern wir die Phänomene auf, so lassen sich eine ganze Liste von Elementen registrieren, die neu, im Zunehmen oder im sich entwickeln sind. Und wir müssen unterscheiden zwischen den sogenannten einfachen Bürgern und den meinungsbildenden und entscheidungsbevollmächtigten Eliten.
Zunächst zum „einfachen Bürger“: Da ist eine zunehmende, aber überwiegend (noch) rhetorische Gewaltbereitschaft wahrzunehmen, die mit einer alles ausschließenden Resignation verbunden ist. Ob man Medien und Politikern nicht mehr glaubt, Rechtsprechung und Gesetze in Frage stellt, dem ganzen System missmutig gegenübersteht und darauf bereits aggressiv reagiert oder auch nur in Resignation verfällt, immer ist der Glaube im Hintergrund auszumachen, das es zwar schlecht für uns stehe, dieses aber trotzdem ohne Alternative sei.
Etwas anders stellt sich das Problem dar bei den „Eliten“: Hier wird schon auch deutlich wahrgenommen, dass etwas nicht richtig läuft in der Gesellschaft, aber eine Änderung herbeiführen zu wollen wäre verbunden mit einem Systemwechsel, der gerade die Vorteile alle in Frage stellen würden, deren man sich gerne bedient und die zu haben selbstverständlich hochverdient sind. Viele Meinungsäußerungen lassen sich daher so interpretieren, dass man ja gerne mehr tun würde, aber entweder sind die Systeme widerspenstig, seien die Möglichkeiten und Mittel begrenzt oder es widerspräche Grundsätzen, die infrage zu stellen das ganze System kippen könne.
Weiterhin festzustellen ist die Neigung, einmal etablierte Systeme oder Maßnahmen für immer und alle Zeit festzuschreiben. Es wird immer nur dazu gebaut, umgestellt oder ergänzt, selten aber abgebaut, zurückgeschnitten oder gar ganz entfernt. Viele Gesetze, vorhaben oder Regelungen benötigten einen Neuanfang, eine Stunde null. Steuern, Renten, Gesundheits- und Arbeitsrecht, Kontrollorgane, sie alle sind nicht reformierbar, sondern benötigen einen Neuaufbau. Und es sind müssen Strukturen und Behörden erschaffen werden, die das durch verallgemeinernde Regulierungen erfolgende Unrecht auszugleichen. Regelungen funktionieren eben nur selten zu 100 Prozent gut, und daher brauchen deren Opfer Ansprechpartner, die dann auch form- und bürokratielos helfen können müssen.
Sozialstaatliche Strukturen sind lebendige Systeme, keine toten und zur Ruhe kommende Stahlgebilde. Demokratische Strukturen sind auf Meinungsbildungen und Mehrheiten aufgebaut und daher ebenfalls lebendige Systeme, die dazu noch langsam und behäbig funktionieren. In beiden zurechtzukommen, sie zu gestalten und aufrecht zu erhalten verlangt ein hohes Maß an Phantasie und Vernunft. Beide vermisse ich in den Strömungen unser Zeit. Reaktion und Resignation des Bürgertums sind schlicht das Gegenteil davon, und auch die egozentrisch organisierte Verantwortungslosigkeit der Eliten lässt hier einiges vermissen. Sozialität und Demokratie sollten Teil einer Lebenspraxis sein und sich in kreativem Handeln ausdrücken. Hier gibt es kein festes Regelwerk, dem nur zu folgen ein Leben füllen kann, im Gegenteil. Diese Haltung verbittert und verhärtet und sollte nicht lebendig genannt werden.