Entschleunigung

Damit wird ein Verhalten beschrieben, dass wieder zu einem langsamer fließenden Leben zurückkehren möchte. Dabei soll die Eigendynamik der modernen Gesellschaften die Langsamkeit entgegengesetzt werden. Nun ist diese Definition, die übrigens sinngemäß aus Wikipedia übernommen wurde, eigentlich Unsinn. Das Leben fließt, sofern wir gesellschafts- und zivilisationskonform der mechanischen Zeit folgen, immer gleichmäßig dahin. Dass wir dabei manche Abschnitte als langsam, andere hingegen als schnell fließend empfinden, ist doch mehr der psychologischen Einstellung des Einzelnen anzulasten. Und auch die modernen Errungenschaften wie Handy, Internet und soziales Netzwerk sind doch wohl nicht ausschließlich durch die Konvention der Gemeinschaft, sondern durch das Maß des Einzelnen zum Hamsterrad verkommen. Wenn wir also zu einer Entschleunigung kommen wollen, müssen wir nicht nur unser Umfeld, sondern unsere Einstellung und unsere Maßgaben ändern, mit denen wir verschiedenste Medien, Möglichkeiten und Gewohnheiten nutzen. Nicht alles und jedes Erlebnis müsste erzählt, gepostet, gebloggt oder gar diskutiert sein. Und nicht jede Kleinigkeit der mich umgebenden Menschen müsste gekannt, berücksichtigt oder nachempfunden werden können. Vielmehr ist Ruhe und Geborgensein im eigenen Selbst wohl mehr zu empfehlen. Persönliche Einschränkungen aber fordern Opfer im Bezug auf die Erfüllung gesellschaftliche Konventionen, die letztlich als Verlust erlebt werden müssen. Dazu ist aber nicht jedermann automatisch bereit. Soweit folgt diese Beschreibung dem Gebrauch dieses Wortes in den Mainstream-Medien. Doch dieses Wort und seine Aufforderung kann und muss auch erweitert verstanden werden.
Anders verhält es sich nämlich mit der Auflösung der Beschleunigung, die sich in Arbeitsumgebungen der werktätigen Menschen zunehmend ausbreitet. Dazu zähle ich zunächst einmal die Unsitte vieler Unternehmen, ihren Mitarbeitern Löhne aufzuzwingen, von denen weder der Einzelne noch eine Familie leben kann. Wenig Geld in der Tasche ist nämlich genau genommen eine zusätzliche Beschleunigung, kann mit dünnem Geldbeutel in der Tasche doch nicht mehr jederzeit und überall mehr eingekauft, getankt oder am Gesellschaftsleben teilgenommen werden. Weiterhin pflegen Unternehmen zunehmend in den Arbeitsabläufen die herkömmlichen Arbeitsteilungen aufzuheben, was jedem Arbeitsnehmer neben seiner eigentlichen Tätigkeit zusätzlich Büro-, Verwaltungs-, Service- und Organisationstätigkeiten aufbürdet. Aufstieg und Bewahrung der Position innerhalb der leistungsorientierten Organisation bedingt immer die Einhaltung der gestellten Anforderungen, ganz gleich wie futuristisch diese auch klingen mögen. Risikoreiche Arbeitszeit- und Arbeitsgestaltungsmodelle wie „Leistung auf Abruf“, „just in time“ oder „kanban“ bringen zusätzlich Beschleunigung ins Leben der Arbeitnehmerschaft bis in höhere Organisationsebenen hinein.

Wenn wir also uns nur die beschriebenen zwei Lebensebenen anschauen (Kommunikation und Arbeitswelt), wird bereits deutlich, dass die Beschleunigungen der Lebensprozesse unterschiedliche Ursachen haben und daher auch unterschiedliche Lösungsansätze bedürfen. Hier einfach nur von „der notwendigen Entschleunigung“ zu sprechen und mit einigen beispielhaften Beschreibungen eine Anforderung an jeden Einzelnen zu gestalten, zielt deutlich zu kurz. Menschen in Industriegesellschaften leben in eigendynamischen Systemen, die sich nur durch systemimmanente Anpassungen gestalten lassen. So kann ich zwar mein eigenes Kommunikationsverhalten ändern, nicht aber die gesellschaftlichen Anforderungen, die diesen zugrunde liegen. Und im beschriebenen Arbeitsleben sind der Gestaltungsfähigkeit des Einzelnen naturgemäß als einem unter vielen sehr enge Grenzen auferlegt. Weitere Systemkreise sind Familie, Glaubensgemeinschaften, Freizeitgestaltungen usw., die ähnliche, aber auch ganz besondere Eigendynamiken besitzen.

Viele Artikel der Mainstream-Presse bürden dem Einzelnen die Verantwortung beim Wechsel auf „langsam“ auf. Ein Beispiel sei aus dem Spiegel zitiert (Spiegel Online, Annette Meyhöfer, Entschleunigung, Der Trend zu weniger Tempo):
Es gelte überall, sagt Peter Heintel, die vergewaltigte „Eigenzeit“ wiederzuentdecken; „die wenigsten haben es ja gelernt, mit Zeit souverän umzugehen, die sind fast glücklich, wenn sie im Stau zum Ferienort zwangsentschleunigt werden, das brauchen sie als ‚rite de passage‘, weil sie den Schockübergang nicht ertragen könnten“. Deshalb nennt er die Erlebnisgesellschaft auch lieber eine „Versäumnisgesellschaft“, beherrscht von der Angst, etwas zu verpassen, von dem sie nicht einmal weiß, was es ist. „War es gestern, oder war’s im vierten Stock?“, heißt das bei Karl Valentin.
Also öfter mal ganz abschalten. Aber wenn man den Schalter nicht findet? Wird es in Zukunft nur mehr „heimliche Stresser“ geben, die zu ihrer Agenda greifen „wie ein Trinker zum Flachmann“? So hat der Schweizer Schriftsteller und ehemalige Werber Martin Suter in seiner Geschichtensammlung „Business Class“ jenen Typus karikiert, der einfach nicht in die schöne neue F-Klasse: F wie Familie, Freunde, Freizeit und Fun passen will. Dabei müsste er nur ein wenig umschalten, denn keiner sollte Entschleunigung mit Trägheit verwechseln, die ist noch immer eine Todsünde: Seid nicht so faul, sonst gibt es keinen Genuss.

Tatsächlich lässt sich mit solchen Fabeln das Problem der wachsenden Überforderung nicht lösen. Neben den Kleinigkeiten, die jeder Einzelne zu seine „Entschleunigung“ sicher beitragen kann, müssten die Systeme der Lebenswelten (Arbeitswelt, Sozialität, Medien, Religion, Wissenschaft) , in denen jeder Einzelne sich bewegt bzw. bewegen muss mit therapiert werden, denn dort liegen die Wurzeln der bedrohlichen Beschleunigung. Nur von dort aus ließe sich Verlangsamung erreichen. Dieses geschieht aber von verantwortlicher Seite (Politik, Unternehmen, Behörden) her nicht, ist doch eher die Tendenz zu beobachten, die Schlagzahlen und Anforderungen immer weiter zu erhöhen. Ich bezweifle daher die guten Absichten solcher Artikel, da zur Befolgung der guten Ratschläge zur Mäßigung eigentlich nur der eigene kleine private Bereich zur Verfügung steht. Wird dieser aber noch mehr zurückgedrängt, verliert der Betroffene auch zunehmend die Möglichkeit, in der Ruhe und Gelassenheit des eigenen Selbst sich zu erholen. Vielmehr scheinen diese Schriftwerke die Absicht zu hegen, neben der Last auch noch die Verantwortung für die Last den Opfern aufzubürden. Dieses Mittel hat Methode, ist es doch die erfolgreiche Grundlage einer 2000-jähigen europäischen Geschichte: Du hast Gott und seine irdischen Diener um Hilfe gebeten und diese nicht bekommen, dann hast du zu wenig gebettelt und dir geht es noch viel zu gut. Du solltest verzichten, dich kasteien und noch mehr betteln. Vielleicht aber hat Gott wie seine Diener einfach nur kein Interesse mehr auf dich zu hören! Denn genau so wird es heute auch bei denen sein, die wirklich zur Entschleunigung innerhalb der Gesellschaft wirksam beitragen könnten, weil sie nämlich – zum eigenen Wohlergehen – die angesprochenen Lebenssysteme maßgeblich kontrollieren und diese in der bestehenden Form zu erhalten suchen. Nur heißt Gott heute „Geld“, und die Diener sitzen nicht in Klöstern und Kirchen, sondern in den Glastürmen der Städte.

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